Rudolf Steiner

Richard Wagner und sein Verhältnis zur Mystik

NÜRNBERG, 2. DEZEMBER 1907 (ÖFFENTLICHER VORTRAG)

(GA 92)

Erstveröffentlichung in: „Die Drei“, Heft 10, (1928/29)

Die Theosophie oder Geisteswissenschaft soll nicht irgend etwas Einseitiges, nur die menschliche Neugier oder Wissbegierde Befriedigendes sein, sondern sie soll eine geistige Strömung darstellen, die berufen ist, tiefer einzugreifen in alles das, was wir Kultur der Gegenwart und der nächsten Zukunft nennen. Wir werden ein Gefühl davon bekommen, dass Theosophie zu dergleichen berufen sein kann, wenn wir sehen, wie das, was durch sie pulsiert, im Grunde genommen nicht nur in ihr liegt, sondern sich als mehr oder weniger deutliche Ahnung in unserer Zeit schon kundgibt auf den verschiedensten Gebieten.

Heute soll uns die Art und Weise beschäftigen, wie in einem der größten Künstler der neueren Zeit ein ähnliches Element lebte wie in dem, was wir Theosophie, Geisteswissenschaft, nennen. Nicht soll jemand glauben, dass alles das, was ich über diesen bedeutenden Künstler der neueren Zeit, über Richard Wagner, zu sagen haben werde, ihm etwa auch im deutlichen, verstandesmäßigen Bewusstsein gelebt habe. Billig wäre der Einwand, der etwa erhoben werden könnte: Du erzählst allerlei Dinge in Anknüpfung an Richard Wagner, aber wir können nachweisen, dass er das niemals über sich selbst gedacht hat. – Diesen Einwand kann jeder, der Richard Wagner betrachtet wie wir heute, leicht selbst machen. Keinesfalls soll behauptet werden, dass das, was gesagt werden soll, als ausgesprochene Ideen in Richard Wagner gelebt hat. Etwas anderes ist es, ob man ein Recht hat, dies auszusprechen. Es würde zu lange dauern, wollte ich Ihnen in einer ausführlichen Darlegung dieses Recht hier ableiten. Aber ein Vergleich, ein Bild kann uns dahin führen, die Berechtigung dieser Betrachtungen nachzuweisen. Denkt nicht der Botaniker über die Pflanze nach? Sucht er nicht die Gesetze, nach denen sie wächst und lebt? Versteht er nicht dadurch das Wesen der Pflanze oder sucht es zu verstehen? Und darf irgend jemand deshalb, weil die Pflanze nicht selbst diese Gesetze in ihrem Bewusstsein hat, dem Botaniker das Recht absprechen, über sie in dieser Weise zu reden? Wer dieses Bild tiefer verfolgt, wird sehen, wie sich das, was heute gesagt werden soll, ebenso zu dem Künstler verhält. Nicht als ob hier etwa die allgemeine Phrase wiederholt werden sollte, der Künstler schaffe unbewusst. Aber die Gesetze, durch die man bei einer gewissen Weltbetrachtung den Künstler versteht, die brauchen ebenso wenig von dem Bewusstsein des Künstlers ausgesprochen zu sein wie ein Pflanzengesetz von der Pflanze. Das sei vorausgesetzt, weil sonst der eben charakterisierte Einwand gemacht werden könnte.

Ein anderer Einwand, der in der Gegenwart sehr leicht aufkommen kann, knüpft an an das Wort „Mystik“. Vor kurzem wurde einmal in einem kleinen Kreise von einem Menschen das Wort „Mystik“ ausgesprochen, und ein etwas gelehrter Herr sagte: Goethe war eigentlich auch ein Mystiker, er hat es ja zugegeben, dass vieles in der Welt der menschlichen Erkenntnis dunkel und nebelhaft bleibe. – Der Mann hat damit gezeigt, dass er unter Mystik, wenn die Menschen sie betreiben, alle diejenigen Vorstellungen versteht, die etwas Nebelhaftes, Unklares, Dunkles haben. Niemals hat ein wahrer Mystiker dasjenige unter Mystik verstanden, was unklar ist und was man nur mit allgemeinen Gefühlen umfassen und ahnen könnte. Wir können es heute geradezu erleben, dass in gelehrten Kreisen gesagt wird: Bis zu diesem Punkt reicht unsere klare Erkenntnis, von da ab aber beginnt das allgemeine Gefühl, sich in die Natur-geheimnisse hineinzuversenken, da beginnt die Mystik. – Im Gegenteil: Der wahre Mystiker sieht darin das Allerklarste, das, was mit den sonnenhellsten Begriffen in die Tiefen des Daseins hineinleuchten soll. Und wenn jemand von dem Dunkel der Mystik spricht, von allerlei Ahnungen, so bedeutet das nichts anderes, als dass die Menschen sich niemals die Mühe gegeben haben, für sich das zur Klarheit zu bringen, was die Mystik klar gibt. In den ersten Jahrhunderten des Christentums nannte man das „Mathesis“, nicht weil es Mathematik hätte sein sollen, sondern weil das, was die Mystik aufbaut an Ideen und Vorstellungen, so klar durchsichtig sein soll für den Menschen wie die Begriffe der Mathematik. Es muss der Mensch nur Geduld haben, sich wirklich hineinzufinden in das, was wahre Mystik ist. Nur in dieser Art sei das Wort „Mystik“ mit dem Namen Richard Wagner in Zusammenhang gebracht.

Nun wollen wir charakterisieren, was zunächst die Grundüberzeugung eines jeden Geisteswissenschaftlers ist. Das ist, dass es hinter unserer physisch-sinnlichen Welt eine unsichtbare Welt gibt und dass der Mensch imstande ist, in diese unsichtbare Welt einzudringen. Das, was in dieser Voraussetzung liegt, schließt die mystische Gesinnung ein.

Hat Wagner eine solche Überzeugung für sich ausgesprochen? Ja, er sprach sie deutlich aus! Und was das Wichtigste ist, er sprach sie aus von seinem Gesichtspunkte als Musiker aus, damit andeutend, dass ihm Musik, Kunst mehr wert war als bloße Beigabe zum Dasein, dass sie ihm das wichtigste Lebenselement war. Da, wo er über die symphonische Musik spricht, sagt er wunderbare Worte über die Kunst. Er sagt, alle symphonische Musik erscheine wie eine Offenbarung aus einer andern Welt heraus, die uns in einer ganz anderen Weise über Zusammenhänge des Daseins aufkläre, als uns die Logik aufklären kann, und dass es das Wunderbarste sei, wenn wir die Überzeugungen, die aus diesen symphonischen Sprachelementen zu uns dringen, in uns aufnehmen; dann geben sie uns eine Sicherheit des Gefühls, gegen welche das Verstandesurteil über die Welt nicht aufkommen kann.

Man muss diese Worte nur nicht als gelegentlich hingeworfen nehmen, sondern man muss sie als etwas hinnehmen, was vom tiefsten Ernste einer großen menschlichen Erkenntnis heraus etwas charakterisieren will. Können wir, an die Grundüberzeugungen der Mystik anknüpfend, diese Worte deuten? Ja! Wenn sie einmal forschen, wie Mystiker öfter die Art und Weise charakterisieren, wie sie erkennen, dann finden Sie zum Beispiel das folgende Wort, das nicht ein beliebig erfundenes Wort ist, sondern ein Wort, das Sie immer wieder als eine Art technischen Ausdruck der Mystiker finden können. Die Mystiker sagen: Im gewöhnlichen menschlichen Erkennen wendet sich der Mensch an seinen Verstand, um die Gesetze der Natur und der Geisteswelt zu erkennen; aber es gibt eine höhere Art des Erkennens, da knüpfen wir nicht Begriff an Begriff nach Verstandesart, sondern da weben sich die Vorstellungen zusammen wie geistige Musik; das ist eine andere Art des Erkennens. – Der wahre Mystiker kennt die größere Sicherheit dieses Erkennens, als sie beim Verstandesurteil vorhanden ist auf diesem Gebiet. Und merkwürdig! Ein jeder Kenner würde Ihnen diese Art der Erkenntnis dadurch charakterisieren, dass er das Bild – es ist mehr als ein Bild! – von der Musik heranzieht. Es ist nicht bloß ein Bild, wenn in der alten pythagoreischen Schule gesprochen wird von der Sphärenmusik. Eine flache Schulphilosophie hält diese Sphärenmusik für ein Bild, für einen Vergleich mit irgend etwas. Derjenige aber, der weiß, um was es sich handelt, weiß auch, dass diese pythagoreische Sphärenmusik eine Wirklichkeit ist und dass es eine Ausbildung des Geistes gibt, wo die Klänge dieser Musik zu hören sind.

Öfter schon ist ausgesprochen worden, dass wir umgeben sind von Welten geistiger Art, die wir nur zunächst nicht sehen können, so wie der Blinde umgeben ist von der Welt der Farbe, die er nicht sieht. Wenn seine Augen operiert werden, so dringen Glanz und Farbe und Licht an ihn heran, die ihm zuvor nicht zugänglich waren. Solch eine Eröffnung eines geistigen Sehvermögens gibt es. Nur darauf kommt es an, dass man die höheren Sinne öffnet, dann tritt die höhere Welt aus dem Dunkel heraus; und wir bezeichnen die nächste der uns umgebenden Welten als Lichtwelt oder Astralwelt, und die noch höhere als die eigentliche geistige Welt der Sphärenklänge. Das ist eine wahre Wirklichkeit, zu der der Mensch geboren werden kann in einer Art von höherer Geburt, so wie der Blindgeborene sehend werden kann, wenn er operiert wird.

Diejenigen, die eingeweiht sind, sprechen unverhüllt von dieser Welt. Wir brauchen uns nur an Worte Goethes zu erinnern. Freilich werden viele das für etwas Phantastisches halten, was nun gesagt wird. Sie werden es sogar für unkünstlerisch halten, derlei Dinge zu sagen, weil sie den Dichter möglichst so im Unbestimmten schwimmen lassen wollen in bezug auf das Verständnis seines Werkes. Aber ein großer Dichter wie Goethe sagt nicht Phrasen, wenn er Besonderes charakterisieren will, indem er sagt: „Die Sonne tönt nach alter Weise . . . „. Das ist entweder Hindeutung auf Tieferes, oder es ist Phrase, da ja die physische Sonne nicht tönt. Und ein Dichter, der aus der Anschauung heraus arbeitet wie Goethe, dem darf man eine solche Phrase nicht zumuten. Goethe als Eingeweihter weiß, dass es eine solche tönende Welt, eine geistig tönende Welt gibt, und er bleibt im Bilde. Als er den Faust nach seinen Irrgängen, die im ersten Teil geschildert sind, hinaufentrückt sein lässt in die geistige Welt, da heißt es wiederum:

„Tönend wird für Geistesohren
schon der neue Tag geboren“

Goethe bleibt völlig im Bilde, wenn er die geistige Welt charakterisieren will.

Für Richard Wagner waren die Töne der äußeren Musik ein Ausdruck, eine Offenbarung einer inneren Musik, der Welt eines geistigen Klanges der durch die Welt pulsierenden Harmonie. Das empfand, das fühlte er. Das hat er selbst nicht nur einmal gesagt. Wo er die einzelnen Instrumente charakterisiert, da heißt es:

„In den Instrumenten repräsentieren sich die Urorgane der Schöpfung und der Natur; das, was sie ausdrücken, kann nie klar bestimmt und festgesetzt werden, denn sie geben die Urgefühle selbst wieder, wie sie aus dem Chaos der ersten Schöpfung hervorgingen, als es selbst vielleicht noch nicht einmal Menschen gab, die sie in ihr Herz aufnehmen konnten.“

Man muss solche Worte nicht mit dem Verstände pressen; man muss versuchen, sie mit ihrer ganzen Stimmung in sich aufzunehmen, dann fühlt man, wie Richard Wagners ganze Seele eingetaucht war in das, was man wahre, echte Mystik genannt hat.

So sieht Richard Wagner seine ganze künstlerische Sendung an. Er ist kein Künstler, der bloß das, was zufällig in der Seele lebt, herausoffenbaren will. Er will die Notwendigkeit des Platzes empfinden, an dem er steht in der Entwicklung. Er sieht zurück in urferne menschliche Vergangenheit, in eine menschliche Vergangenheit, wo es noch nicht gab, was man vereinzelte Kunst nennt. Hier berühren wir einen tiefen Punkt, der Richard Wagner fortwährend beschäftigte, wenn er seine Mission empfand, jenen Punkt, über den Nietzsche so tief nachdachte und den er versuchte, in seiner Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ zu charakterisieren. Wir wollen dem aber nicht nachgehen, was Nietzsche geschrieben hat, wir wollen uns vielmehr an die Mystik anlehnen, denn die weiß mehr zu sagen, als was Nietzsche über Richard Wagner zum Bewusstsein zu bringen vermochte. Sie weist uns zurück in Urzustände menschlicher Entwicklung.

Was waren die Mysterien? Bei allen Völkern des Altertums gab es Mysterienstätten, die man ebenso gut Tempel wie Schulen nennen kann, bei den Ägyptern, bei den Griechen und so weiter. Überall war das Mysterium die Grundlage einer späteren Kultur, und im Mysterium waren enthalten zugleich Religion, Wissenschaft und Kunst. Versetzen wir uns einmal skizzenhaft in das Wesen eines solchen Mysteriums. Was erlebte da derjenige, der nach gewissen Proben zugelassen wurde, um die Geheimnisse zu erlauschen? Er erlebte etwas, was später in der Entwicklung in getrennten Zweigen hervortrat, in Einzelheiten: Religion, Kunst und Wissenschaft, die wie drei Stämme hervortraten, waren im Mysterium in ihrer Wurzel eins. Denken Sie sich als Zuschauer und Zuhörer des Mysteriums! Nehmen wir den Fall, wie im Mysterium das Rätsel der Welt dem Menschen vorgeführt wurde. Vorgeführt wurde da, wie die geistigen Kräfte herunterstiegen, wie sie leben im Mineral, in der Pflanze, wie sie vollkommener werden im Tiere und wie sie im Menschen selbstbewusst werden. Der ganze Gang des Weltengeistes stellte sich so dar, dass die Augen das alles sehen konnten. Und das, was die Augen sahen, die Ohren hörten, in Farbe, in Licht, in Ton, das war Weisheit, Wissenschaft. In abstrakter Vorstellung wie heute nahmen diese Leute nicht das auf, was die Weltgesetze enthalten. Darstellung war es: Sie sahen es vorgehen. Die Darstellung war zugleich schön. So entstand die Kunst. Die Wahrheit wurde gegeben in der Form der Kunst. Und so war sie drinnen in der Kunst, dass das menschliche Gemüt religiös gestimmt wurde und in Anbetung niedersank.

Das ist im Urzustand jeder großen Kultur vorhanden gewesen. Die äußere Geschichte weiß nicht viel davon und leugnet dies. Das macht aber nichts. In zwanzig Jahren wird sie solches nicht mehr leugnen. Und ebenso wie in den Urmysterien diese drei vereint waren, so war die Kunst, so waren diejenigen Künste, die dann später getrennte Wege machten, ein Ganzes. Musik und dramatische Darstellung waren zu Einem vereint, und Wagner sah zurück auf eine Urzeit, wo die Künste vereinigt waren, um eine Gesamtheit zu ergeben. Es war ihm klar, dass wegen des notwendigen Ganges der Menschheitsentwicklung diese Künste getrennte Wege gehen mussten. Nunmehr glaubte er aber in seiner Zeit die Epoche gekommen, wo wieder die Vereinigung stattfinden müsse. Er glaubte sich berufen, auf dem Gebiete seines Könnens eine Vereinigung der getrennten Strömungen zu bewirken in dem, was er ein Gesamtkunstwerk nannte. Er fühlte, dass das wahre Kunstwerk etwas von religiösen Durchhauchungen haben müsse. So war ihm das Kunstwerk zugleich religiöser Dienst. Das alles müssen wir uns in seinem Gefühle denken, nachempfinden. Wenn wir im einzelnen seinen Gedanken nachgehen, so werden wir das wiedererkennen. So sah er das dramatisch-musikalische Werk in seinem Geiste sich zusammenfügen aus getrennten Strömungen. Für ihn waren zwei große Künstler Shakespeare und Beethoven. Er sah in Shakespeare den Dramatiker, der mit wunderbarer innerer Geschlossenheit die menschlichen Handlungen auf die Bühne brachte, so wie sie sich ausleben in äußeren Vorgängen. Er sah in Beethoven den Künstler, der mit derselben wunderbaren inneren Geschlossenheit darzustellen vermochte, was sich im Innern der Brust abspielt, was nicht in die äußere Aktion übergeht, in die Geste. Und nun sagte er sich: Da ist etwas, das können wir ganz genau verfolgen, das aber unausgesprochen bleiben muss. Denn da ist zwischen einer Handlung und einer anderen etwas, was in der menschlichen Brust als Vermittler dasteht, was aber nicht übergehen kann in diese Art von dramatischer Kunst. Und wenn das Innere des menschlichen Empfindens symphonisch sich auslebt, dann muss es gleichsam stecken in sich selbst, wenn der Musiker angewiesen ist, in Tönen zu bleiben. Wir sehen es, wie in der Neunten Symphonie Beethovens das, was innerlich in der Seele lebt, heraus sich drängt und Sprache wird zuletzt, vereinigen will das, was in der Kunst nur getrennt ist, in der Menschennatur aber zusammengehört, in ein Ganzes.

Das war Wagners Gefühl von seiner Mission. Daraus entstand seine Idee von dem Gesamtkunstwerk, das den ganzen Menschen in der Kunst hinstellen soll. Es soll so dastehen, wie er sein Inneres durchlebt, und er soll die Möglichkeit haben, das, was so innerlich lebt, hinaustreten zu lassen als Handlung. Was nicht äußerlich dramatisch sein kann, wird der Musik gegeben. Was die Musik nicht ausdrücken kann, geht in die äußere Dramatik hinein. Richard Wagner stellt dar die Synthesis zwischen Shakespeare und Beethoven. Das ist der Grundgedanke Richard Wagners – ein Grundgedanke, der tief aus der innersten Menschennatur herausgeholt ist. So fühlte er seine Mission. Nun aber war damit der Kunst ein Weg gewiesen hinein ins Innerste der Menschennatur. Richard Wagner durfte kein Alltagsdramatiker bleiben. Es musste möglich sein, das Tiefste, was der Mensch erleben kann, mit den höchsten Mitteln in der Kunst hinzustellen – wie einst im Mysterium.

Wenn wir sehen, wie Wagner in der symphonischen Musik sieht die Offenbarung einer unbekannten Welt, wie er sieht Urorgane der Schöpfung in den Instrumenten, dann sind wir bald dabei, wie er die Notwendigkeit fühlt, in seiner Musikdramatik mehr zu enthüllen, als was hier vom Menschen in dieser physischen Welt lebt. Das ist nur ein Teil der menschlichen Natur. Überspannend diesen Teil ist der höhere Mensch, der in jedem menschlichen Innern lebt, der weit mehr ist, als was sich äußerlich ausleben kann. Dieser höhere Mensch, der wie in umfassender Glorie den gewöhnlichen Menschen umschwebt, steht mit den Quellen des Lebens in tieferen Zusammenhängen, als es äußerlich klar werden kann. Weil Richard Wagner an die höhere Natur des Menschen anknüpfen will, kann er nicht Alltagsmenschen brauchen, er muss zu denen greifen, die im Mythos gegeben sind. Da werden die Menschen hingestellt, wie sie über sich hinauswachsen, weit größer werden wollen und sind, als der Mensch des physischen Planes sein kann und will. So hängt es wiederum mit der Mission Richard Wagners zusammen, dass er hinausgeht über den Alltagsmenschen und den Mythos auf die Bühne bringt. Im Mythos muss Richard Wagner zu gleicher Zeit – wenn auch nicht verstandesmäßig – die tieferen Weltengesetze, die Gesetze und Wesenheiten der unbekannten Welt durchleuchten lassen durch die dramatische Handlung, durch das musikalische Element. Und das tut er.

Wir können natürlich nicht alle Einzelheiten berühren, nur einzelne Beispiele können wir herausgreifen. Überall wird sich zeigen, wie er im tiefsten Wesen zusammenhängt mit dem, was uns die Geisteswissenschaft über die Welt zu sagen hat. Was hat uns die Mystik zum Beispiel über das Zusammenleben der Menschen zu sagen? Für die äußere Betrachtung stehen die Menschen nebeneinander; sie sieht Menschen auf Menschen wirken in der physischen Welt, wenn sie zu einander sprechen, von einander abhängig werden. Aber es gibt tiefere Zusammenhänge in der menschlichen Natur. Das, was als Seele in der einen Brust lebt, hat tief verborgene Verwandtschaft mit dem, was als Seele in der anderen Brust lebt. Und die Gesetze, die die Oberfläche zeigt, sind nur die unbedeutendsten. Was als tiefes, der Seele zugrunde liegendes Netz von Gesetzen gilt, geht von Mensch zu Mensch. Das enthüllt die Geisteswissenschaft. Das erahnt der Künstler. Daher greift er zu den Stoffen, bei denen er zeigen kann, wie ein tieferes Gesetz von Mensch zu Mensch wirkt, als das, was das äußere Auge sehen kann.

Gleich in einem seiner ersten Werke zeigt uns Richard Wagner diesen Drang, geheimnisvolle Zusammenhänge zu zeigen. Oder fühlen wir nicht so etwas, was im Unsichtbaren waltet zwischen Mensch und Mensch, wenn der Holländer uns mit Senta entgegentritt? Werden wir nicht erinnert an wunderbare Zusammenhänge im „Armen Heinrich“, wo das Opfer einer reinen Jungfrau eine gesundende Wirkung hat? Wir müssen solche Bilder als Ausdruck einer tieferen Wahrheit nehmen. Da ist etwas, wahrer als die oberflächliche Wahrheit der gewöhnlichen Gelehrsamkeit. In dem Opfer, das ein Mensch für den andern bringen kann, liegt etwas Wirkliches. In diesem mystischen Bande, das für den oberflächlichen Verstand nicht erfassbar ist, kommt das zum Beispiel zum Ausdruck, wenn man von der Allseele spricht, bestimmt spricht. Da ist es enthalten, was sich im Bilde tiefster Wahrheit ausdrückt, wenn der eine Mensch für den anderen etwas tut.

Ich spreche hier nun etwas aus, was die Geisteswissenschaft Ihnen zeigen kann, um Sie hinzuführen zu der Grenze, wo dies etwas ersichtlich werden kann. Wir wissen, dass sich die Welt entwickelt und wie im Laufe der Entwicklung immer Wesen abgestoßen werden. Es ist ein Gesetz, das uns die Geisteswissenschaft lehrt, dass jede Höherentwicklung verbunden ist mit einem Hinunterstoßen. Später findet ein Ausgleich statt. Für jeden Heiligen muss ein Sünder entstehen. Das fordert das notwendige Gleichgewicht. Wahr ist es, so sonderbar es klingt. Das ist, wie wenn eine Flüssigkeit aus zweien zusammengemischt ist. Wenn man die eine rein bekommen will, so muss die andere trüber werden. So ist es mit dem Aufstieg. Mit jedem Aufstieg ist ein Abstieg verknüpft. Das bedingt, dass das Wesen, das aufgestiegen ist, seine Kraft dazu verwendet, um das andere, niedere Wesen zu erlösen. Gäbe es dieses Zusammenwirken von Wesen nicht, dann gäbe es in der Welt keine Entwicklung. Dadurch wird die Entwicklung in Fluss gebracht. Und wenn wir sehen, wie ein Mensch sich für den anderen hinopfert, da werden wir erinnert an ein solches geheimnisvolles Band, das entstanden war dadurch, dass ein Wesen sich hinauf-, das andere sich hinunterentwickelt hat. Nur zart hindeuten kann man auf so etwas. So ist Richard Wagner schon mitten drinnen in jenem geheimnisvollen Band, das von Seele zu Seele sich zieht.

Wenn wir die verschiedenen Werke ansehen, so finden wir, dass Richard Wagner immer aus mystischem Leben die Grundtatsachen geschöpft hat. Wollen wir gleich herangehen an sein Mittelpunktswerk, an die Siegfried-Dichtung, an die Nibelungen-Dichtung. Wollen wir sehen, wie tief sie herausgeschöpft sind aus der Weltenweisheit, so müssen wir anknüpfen an etwas, was die Theosophie zur völligen Klarheit bringt, so widersprechend es der heutigen Wissenschaft auch ist. Unsere weit zurückliegenden Vorfahren bewohnten ein Landgebiet, das gelegen hat im Westen von Europa, zwischen Afrika und Amerika. Sogar die Naturwissenschaft kommt nach und nach schon darauf, dass da einstmals Land war, ein Land, das wir die Atlantis nennen. Da lebten unsere uralten Vorfahren, die freilich ganz anders gestaltet waren. Wie gesagt, heute fängt schon die Naturwissenschaft an, von dieser alten Atlantis zu reden. In einer Zeitschrift, „Kosmos“, herausgegeben unter der Ägide Haeckels, wurde ein Aufsatz darüber veröffentlicht. Da ist freilich nur die Rede davon, was für Tiere und Pflanzen da gelebt haben. Dass der Mensch auch gelebt hat, davon ist noch nicht die Rede.

Wovon die Naturwissenschaft auch schon etwas ahnt, davon erzählt die Geisteswissenschaft klar. In dieser alten Atlantis war eine ganz andere Atmosphäre, waren ganz andere Verhältnisse. Das, was wir heute kennen als Verteilung von Wasser und Sonnenschein in der Luft, war damals noch nicht vorhanden. Da drüben im fernen Westen war die Luft dauernd mit Wasserdampf, mit Nebelmassen erfüllt. Sonne und Mond waren nur zu sehen mit regenbogenförmigen Höfen. Ganz anders war das Leben der Seele. Die Menschen lebten so, dass sie in viel innigerem Bunde standen mit der Natur, mit Stein, Pflanze und Tier. Eingebettet waren sie in die Nebelmassen. Wahr ist das Wort: Der Geist der Gottheit schwebte, brütete über den Wassern. – Denn das, was in Nachklängen erhalten ist bei den Völkern, die die Nachkommen der Atlantier sind, war in hohem Maße der Fall bei den Atlantiern: sie verstanden alles um sich herum. Das Rieseln der Quelle war nicht unartikuliert, es war der Ausdruck der Weisheit der Natur. Weisheit hörte der Mensch aus allen Dingen seiner Umgebung, denn diese Umgebung bewirkte, dass dieser alte Vorfahre dumpfer Hellseher war. Er nahm nicht wahr, was sich im Raume ausdehnte, sondern Farben-erscheinungen. Hellseherische Kräfte hatte er. Weisheit webte in den Nebeln, und diese Weisheit nahm er mit seinen dumpfen Kräften wahr. Nur andeuten kann man das. Die Entwicklung bestand darin, dass die Nebel sich in Wasser nieder-schlugen, die Luft immer reiner wurde. Damit entwickelte der Mensch sich zum heutigen Bewusstseinszustande. Er wurde abgeschlossen von der äußeren Natur, er wurde ein abgeschlossenes Wesen in sich selbst. Wenn der Mensch noch im Bunde mit der Natur ist, dann ist die Weisheit eine einheitliche, dann lebt er wie in einer Weisheitssphäre; und dies begründet eine gewisse Bruderschaft, denn jeder nimmt die gleiche Weisheit wahr, jeder lebt in der Seele des anderen. Mit dem Hinabsteigen der Nebelmassen trat der Mensch hinein in das egoistische Bewusstsein, in das Ich-Bewusstsein, wo jeder Mensch in sich den eigenen Mittelpunkt fühlte, wo ein Mensch dem anderen entgegentrat und für sich seine Sphäre in Anspruch nahm. Die Bruderschaft geht über in Daseinskampf.

Sagen und Mythen sind nicht das, was man am grünen Tisch als phantastische Theorien auslegt. Was sind Sagen und Mythen? Es sind die Überbleibsel alter hellseherischer Erlebnisse der Vorfahren. Das ist eine Tatsache. Unsinn ist es, wenn heute behauptet wird, irgendein Mythos bedeute einen Kampf eines Volkes mit einem anderen. Die Gelehrten sprechen von dichtender Volksphantasie; sie sollten das Volk nur kennenlernen, ob es Wolken umdichtet zu Göttergestalten. Das macht man den Leuten vor; das ist Phantastik, Träumerei. Wie Mythen entstehen, davon können sie sich heute noch überzeugen. Heute noch gibt es lebende Sagen. Zum Beispiel in verschiedenen Gegenden gibt es die Sage von der Mittagsfrau. Sie erzählt uns: Wenn irgendwelche Landleute des Mittags auf dem Felde bleiben, anstatt die Feldarbeit zu unterbrechen und nach Hause zu gehen, dann kommt die Mittagsfrau und gibt ihnen Fragen auf. Können sie sie nicht beantworten bis zu einer gewissen Stunde, dann würgt sie sie. – Wer würde da nicht das Bild eines Traumes sehen, der den Menschen draußen befällt, wenn er in der Sonnenhitze liegen bleibt. Der Traum ist der letzte Rest des damaligen Bewusstseins. Da sehen wir, wie heute noch die Sage aus dem Traum heraus entsteht.

So sind alle die germanischen Sagen und Mythen entstanden, die uns erhalten geblieben sind. Das sind zum großen Teil noch Sagen und Mythen, die entstanden sind bei den letzten Nachzüglern der Atlantier. So erinnerte sich der alte Germane der Zeit, da seine Vorfahren drüben im Westen saßen – sie sind nicht von Osten gekommen -, wie sie nach Osten zogen in der Zeit, als die Nebel des atlantischen Nebellandes sich verdichteten und jene Fluten bildeten, die als Sintflut bekannt sind, wie die Luft rein wurde und das heutige klare Tagesbewusstsein sich bildete. Zurück schaute der alte Germane nach dem Nebelland, nach Nifelheim, und er sagte: Fortgeschritten sind wir aus dem alten Nifelheim zu der jetzigen Welt. – Aber es gibt gewisse geistige Wesen, die sind zurückgeblieben auf der geistigen Stufe, die damals die richtige war; das sind die, die mit ihrem ganzen Verstehen den Charakter, die Natur des alten Niflheim, des Nibelungenheimes, sich bewahrt haben, die hereinragen in unsere Zeit, die „Geister“ geworden sind, weil sie nicht physische Leiber haben jetzt. Wunderbare Verwebungen haben wir da vor uns. Nirgends dürfen wir hier pedantisch zu Werke gehen. Wir müssen berücksichtigen, wie ineinanderweben Phantasie und hellseherisches Vermögen, Sage und Tatsache. Nicht abstreifen dürfen wir den Tau, den sie haben müssen. Man erinnert sich, wie die Nebel hinuntersanken, und da kam die Vorstellung, als ob diese Nebel hinuntersänken und die Flüsse gebildet hätten im Norden des mittleren Europa. Im Rheinwasser sah man etwas wie Zurückgebliebenes aus den Nebeln der alten Atlantis hinunterfließen. Wie war der Fortgang? Weisheit hat der Mensch aus dem Rieseln der Quellen vernommen. Das war eine Weisheit, die gemeinsam war, das gemeinschaftliche Element, das den Egoismus ausschloss. Für die Weisheit ist nun ein uraltes Symbolum das Gold. Herübergebracht wurde dieses Gold vom alten Niflheim. Was wurde jetzt aus diesem Golde? Daraus wurde ein Besitztum des menschlichen Ich. Was früher gemeinschaftliche, von der Natur zugeraunte Weisheit gewesen war, war jetzt aus menschlicher Urteilskraft, aus dem Ich herausfließende Weisheit, der der Mensch als selbständiges Wesen gegenübertrat. Jetzt bildete der Mensch einen „Ring“ um sich herum. Durch diesen Ring wurde die alte Bruderschaft der Menschen in einen Kampf der Menschen untereinander verwickelt. Weisheit als gemeinschaftliches Element, das lebte in den großen Sagen früherer Zeiten in den Wassern, der letzte Rest im Rhein. Dahinein war diese Weisheit versenkt.

Aber die Menschen haben sich entwickelt zum egoistischen Bewusstsein. Auch die Nibelungen mussten sich zum Ich- Bewusstsein entwickeln. Sie rissen das an sich, was gemeinschaftlich war und formten den Ring, der als Ring des Egoismus sie umgibt. Da sehen wir – in einer etwas skizzenhaften Sprache angeschlagen wie hereinfließen die wahren Tatsachen in die Welt der Phantasie und wie das Gold, der Überrest der alten Weisheit, die durch den Nebel gewallt ist, wie das weisheitsvolle Ich den Ring um sich konstruiert, wodurch der Kampf ums Dasein entsteht. Das ist die tiefere Grundlage des Mythos vom Nibelungenhort.

Das ist etwas, wo Richard Wagner einen Ausdruck finden konnte in der großen dramatischen Handlung und in den Tönen seiner Musik, die eine unsichtbare Welt zum Ausdruck bringt, die hinter der sichtbaren ist. So hat er in einer modernen Form den Nibelungen-Mythos umgeschaffen und gab uns diesen ganzen Werdegang in seiner Nibelungen-Dichtung. Wir fühlen, wie die neuen Götter, die die Menschheit regieren, ihren Übergang gefunden haben von den alten Göttern.

Denken wir uns nochmals in die alte Atlantis hinein: Nebeldünste, wo überall die Weisheit aus allen Dingen sprach. Da müssen Mächte walten zwischen den Menschen, die jetzt nicht mehr durch gemeinsame Weisheit lenken, sondern durch Verträge und Gebote, und die selbst die Götter durch Verträge festgelegt haben. Das stammt ab von urweisheitsvollem Bewusstsein. Da, wo der neue Gott Wotan an wichtiger Stelle steht, wo Fafner die Freia zurückgeben soll, da, wo Wotan selbst angekränkelt ist von der Ich-Weisheit, von dem Ring, da trat das uralte, heilige Bewusstsein der Menschheit nochmals vor ihn hin, das Erdenbewusstsein, das die Menschen einhüllte, als die Atlantis noch lebte. In der Erda wird uns dies damalige Bewusstsein, in das alles eingebettet war, geschildert: ihr Schlaf ist Träumen, ihr Träumen Sinnen, ihr Sinnen waltendes Wissen. – Eine kosmologische Wahrheit steckt darinnen. Diese Weisheit ist in allem, hat alles geschaffen. Sie lebt in der Quelle, rauscht in den Blättern, weht im Winde. Da findet sie das menschliche Ich darinnen. Da war sie ein allumfassendes Bewusstsein, aus dem alles Einzelbewusstsein geworden ist: waltendes Wissen. Das alte Hellsehen war ein Abbild dieses waltenden Wissens. Da war der Mensch nicht eingeschlossen in die Haut. Das Bewusstsein hat alles durchdrungen. Da konnte man nicht sagen, das Ich-Bewusstsein ist da und dort – es war in allem eingebettet. Wunderbar ist das angedeutet aus Wagners Intuition heraus:

Bekannt ist dir
Was die Tiefe birgt,
Was Berg und Tal,
Luft und Wasser durchwebt,
Wo Wesen sind
Weht dein Atem;
Wo Hirne sinnen Haftet dein Sinn:
Alles, sagt man, Sei dir bekannt.

Alles weiß Erda durch dieses Bewusstsein. Und so können wir Schritt für Schritt überall sehen, wie uns wie ein Abdruck der Urwelt-Weisheit das erscheint, was Wagner aus seiner Intuition hineingenommen hat in den Nibelungen-Mythos.

Versetzen wir uns einmal hier – noch einmal soll wiederholt werden, dass Richard Wagner selbst das nicht verstandesbewusst vollzogen hat – in den Zeitpunkt des Übergangs der alten Entwicklung in die neue. Drüben in Atlantis war ein Bruderschaftsbewusstsein. Es folgt der Übergang zum Ich- Bewusstsein, der Einschlag der Selbständigkeit in die Menschennatur. Und jetzt versetzen wir uns an den Anfang des „Rheingoldes“. Hören wir nicht den Einschlag des Ich- Bewusstseins in den ersten Tönen, in dem langen Akkord in Es-Dur? Und vernehmen wir nicht, wie aus dem allgemeinen Bewusstsein dieses Sonder-bewusstsein auftaucht? So könnten wir Motiv um Motiv belebt finden durch Wagners eigene Erkenntnis, dass sich in den musikalischen Tönen eine hinter den Erscheinungen der Welt stehende Welt offenbaren lasse, dass er selbst durch seine Praxis die Instrumente benützt als Urorgane der Natur. Nicht möchte ich Ihnen Richard Wagner als einen Menschen hinstellen, der unbestimmte Mystik verkörpert hat. Sein künstlerisches Schaffen ist eingetaucht in das Wesen der klaren Mystik.

Wenn wir von dieser Dichtung übergehen zu einer anderen Dichtung, zum „Lohengrin“, wie erscheint uns da das Hereinspielen dessen, was Mystik zu geben vermag? Lohengrin ist der Sendbote des heiligen Gral, der von der Stätte der Eingeweihten kommt, wo höhere Weisheit waltet. Die Lohengrin-Sage knüpft an die Sagen an, die uns überall begegnen, die das Hineinspielen der Eingeweihten in die gewöhnliche menschliche Wesenheit anzeigen. An wichtigen Punkten der Entwicklung werden wir überall hingewiesen auf die Sage, die tiefer ist als die Geschichte. Wir werden darauf hingewiesen, wie solche Kräfte der Eingeweihten eingreifen in den Gang der Geschichte. Nicht eine Aufeinanderfolge äußerer Tatsachen gibt sie.

Das war eine wichtige Zeit, jener Übergang aus dem allgemeinen Bewusstsein zu dem Einzelbewusstsein. Diesen Umschwung will der Lohengrin-Mythos charakterisieren. Wir sehen, wie es die Zeit ist, in der ein neuer Geist sich losringt aus dem alten. Zwei Zeitengeister stehen gegeneinander. In den zwei Frauen, die im Streit liegen, sind sie dargestellt. Elsa, das Weibliche, ist immer das, was uns die nach dem Höchsten ringende Seele darstellt. Nicht jene banalen Auslegungen gelten von Goethes Worten im „Chorus mysticus“: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“; aus tiefster Mystik ist das herausgeschrieben. Die Seele muss sich befruchten lassen von den großen Ereignissen, durch die neue Prinzipien in die Entwicklung hineinkommen. Was hineinkommt, wird dargestellt in den Eingeweihten, die von wichtigen Stätten herkommen. Hier spricht die Geisteswissenschaft von vorgeschrittenen Individualitäten. Man wird immer gefragt: Warum zeigen sich diese nicht? Würden sie sich zeigen, man würde sie nicht anerkennen. Man würde sie fragen nach ihrem gewöhnlichen bürgerlichen Namen und Stand. Das ist aber für den, der aus den geistigen Welten heraus wirkt, das Unbedeutendste. Denn der, welcher als Eingeweihter die Geheimnisse zu künden hat, der ist so weit erhaben über das, was Geburt, Name, Stand, Beruf ist, dass es Unsinn ist, ihn darum zu fragen. Wo solche Fragen an ihn herantreten, ist das Verständnis für seine tiefe Mission so weit entfernt, dass Trennung eintreten muss.

Nie sollst du mich befragen,
Noch Wissens Sorge tragen,
Woher ich kam der Fahrt.
Noch wie mein Nam‘ und Art.

Diese Worte Lohengrins könnte jeder von denen sagen, die nicht in der gewöhnlichen Welt allein leben, wenn Sie nach Namen und Stand befragt werden. Das ist eine der Noten, die angeschlagen sind im „Lohengrin“, wo hereinleuchtet wahre, klare Mystik in das musikalisch-dramatische Leben.

Die Menschheit besitzt ein tiefes Geheimnis, ein Mysterium, das in der Welt waltet. Sinnbildlich dargestellt ist es in einem Mythos, der tief verstanden werden muss: Als der Geist, der im Anfang unserer Entwicklung abgefallen ist von den die Menschheit leitenden Geistern, als Luzifer abgefallen ist, da fiel aus seiner Krone ein Stein, und aus diesem wurde eine Schale geformt, jene Schale, aus welcher der Christus Jesus mit seinen Jüngern das Abendmahl genommen hat, jene Schale, in welcher das Blut aufgenommen worden ist auf Golgatha von Joseph von Arimathia; dieser brachte sie in das Abendland. Nach vielen Wanderungen kam die Schale in die Hände Titurels, durch den die Gralsburg gegründet worden ist. Er hat sie aufbewahrt, zusammen mit der heiligen Liebeslanze. Die Sage berichtet, dass alle, die in die Schale hineinblicken, ein Ewiges in sich aufnahmen.

Fassen wir noch einmal das ganze Geheimnis dieses Mythos: ein Zusammenklang mit den Fortschritten der Menschheitsentwicklung, wie ihn sich die, die vom Geheimnis des Grals wissen, vorstellen. Sie sagen: Als die Menschheitsentwicklung auf der Erde begann, war alle Liebe noch gebunden an das Blut. Die Blutsverwandtschaft war es, die die Menschen verband. Wir finden da kleine Stämme und finden, dass in diesen die Nahehe herrscht. Später erst kam die Femehe. Der Zeitpunkt, von dem an herausgeheiratet werden darf aus dem Stamm, bildet einen wichtigen Übergang im Leben eines jeden Volkes.

In den Sagen und Mythen ist das Bewusstsein davon erhalten. Zuerst war also die Liebe gebunden an die Blutsverwandtschaft; dann wurden die Kreise weiter und weiter, innerhalb welcher man sich heiratete. Das ist der eine Strom der Entwicklung: die Liebe, die gebunden ist an die Gleichheit und Gemeinschaft von Fleisch und Blut. Dann wird ein anderes Prinzip maßgebend, das die Selbständigkeit einpflanzt. In jener alten Zeit, die dem Christentum vorangegangen ist – so sagten die Gralsritter -, wa­ren diese zwei Strömungen: die Blutbruder-schaftsliebe und das Freiheitsprinzip, das, was in dem Menschen waltet als Selbständiges, als Luziferisches, die Macht des Jahve, dessen Name bedeutet: Ich bin, der ich bin. – Mit dem Christentum sollte in die Welt gebracht werden eine Liebe, die unabhängig ist von Blutbrüderschaft. So ist der Ausspruch Christi zu deuten: Wer nicht verlässet Vater und Mutter, der kann nicht mein Jünger sein. – Das heißt: Wer nicht an die Stelle einer Liebe, die an Blut und Fleisch gebunden ist, zu setzen vermag die allgemeine Menschenliebe, die von Seele zu Seele geht, von Mensch zu Mensch überhaupt, die sich allmählich herausbilden muss, der kann nicht mein Jünger sein.

So sehen wir, dass der Krone Luzifers entfällt die Schale. Sie verbindet mit dem Luzifer-Prinzip das Christus-Prinzip. In dieser Erkenntnis wird den Gralsrittern die große Kraft, die sie mit Ich-Leben durchdringt. Diesen Sinn finden wir in der Sage vom heiligen Gral. Und denen, die Schüler des heiligen Gral waren, wurde folgendes klargemacht. Ich will in einfacher Weise in Dialogform hinstellen, was den Gralsschülern in langen Übungen allmählich klargemacht worden ist. Manche werden sagen, das sei unglaublich. Aber mit der Wahrheit ist es so, wie mit den Gesandten der zivilisierten Staaten an den Höfen der Barbaren – wie es Voltaire erzählt: Sie müssen sich erst unwürdige Behandlung gefallen lassen, ehe sie anerkannt werden.

Dem Gralsschüler wurde also gesagt: Sieh dir die Pflanze an. Man kann nicht die Blüte mit dem Kopf des Menschen vergleichen; sie entspricht mit ihren männlichen und weiblichen Befruchtungsorganen der Geschlechtsseite des Menschen. Die Wurzel entspricht dem Kopfe. – Schon Darwin hat in einem Vergleich richtig darauf hingewiesen, dass die Wurzel dem Kopfe des Menschen entspricht. Der Mensch ist die umgekehrte Pflanze: Er hat die volle Wendung vollzogen. Keusch streckt die Pflanze ihren Kelch dem Lichte entgegen, aufnehmend die Strahlen, die heilige Liebeslanze, empfangend den reinen Kuss, unter dem die Frucht sich bildet. Die Wendung ist halb vollzogen beim Tier. Die Pflanze, die sich mit dem Kopf in die Erde bohrt, das Tier mit dem waagrechten Rückgrat und der Mensch mit seinem aufrechten Gang, den Blick nach oben gerichtet (es wird an die Tafel gezeichnet). Diese drei verbunden, geben das Kreuz. Sieh hin, wurde dem Schüler gesagt, wie Plato die Wahrheit kündet, wenn er sagt, dass die Weltseele ausgespannt, gekreuzigt liegt auf dem Weltenleib. – Die Weltseele, die Seele, die durch Pflanze, Tier und Mensch geht, findet sich in den Leibern, die das Kreuz darstellen. Das ist die ursprüngliche Bedeutung des Kreuzes. Alles Übrige ist Rederei.

Was hat es bewirkt, dass der Mensch diese Umkehrung vollzogen hat? Wenn wir die Pflanze betrachten, so sehen wir: Für den wahren Mystiker hat die Pflanze denjenigen Bewusstseinszustand, den der schlafende Mensch hat. Wenn er schläft, hat der Mensch den Wert einer Pflanze. Der Mensch hat sein heutiges Bewusstsein dadurch errungen, dass er den reinen, keuschen Pflanzenleib durchdrungen hat mit Begierde, mit dem Leidenschaftsleib. Er ist dadurch in gewisser Weise höher gestiegen zum Selbstbewusstsein, aber erkauft hat er dies mit dem Durchdringen der reinen Pflanzensubstanz mit Begierden und Trieben. Und nun malte man vor dem Schüler einen Zukunftszustand des Menschen aus, einen Zustand, wo der Mensch sein helles Bewusstsein erhalten haben wird, aber wiederum geläutert, gereinigt zurückgekehrt sein wird zur reinen Substanz wie die Pflanze. Er hat sich dann zurückerrungen die reine, keusche Natur. Das Organ der Fortpflanzung wird umgebildet. Man stellte sich vor im Sinne des Gralsritters, dass der Mensch der Zukunft Organe haben wird, die der Fortpflanzung so dienen werden, dass sie nicht von Begierde durchdrungen sein werden, sondern rein und keusch sein werden wie der Pflanzenkelch, der sich hinwendet zu der Liebeslanze, dem Sonnenstrahl. So wird verwirklicht sein das Ideal des Grals, wo der Mensch in reiner Keuschheit, gerade wie die Pflanze, hervorbringen wird seinesgleichen, wo er wieder erzeugt sein Ebenbild in dem höheren reinen Kelch, wenn der Mensch Schaffender im Geiste sein wird. Dieses reale Ideal nannte man den heiligen Gral, die umgewandelten Reproduktionsorgane des Menschen, die so rein und keusch den Menschen hervorbringen, wie heute der Kehlkopf das Wort hervorbringt, das die Wellen der Luft bewirkt.

Und nun wollen wir versuchen zu zeigen, wie in Richard Wagners Gemüt dieses große Ideal nachlebte. Es war im Jahr 1857, da stand er am Karfreitag im Gartenhaus der Villa der Frau Wesendonck auf dem Balkon und sah hinaus, wie die ersten Pflanzen hervorkamen. Er hat diesen denkwürdigen Moment aufgezeichnet. Er empfand in dem Hervorsprießen der jungen Pflanzen das ganze Geheimnis des heiligen Gral, des Geborenwerdens alles dessen, was verbunden ist mit der Vorstellung vom heiligen Gral. Er empfand das im Zusammenhang mit dem Karfreitag. Wunderbare Stimmung überkam ihn. Da schoss der erste Gedanke seines „Parsifal“ in ihm auf. Es ist nun viel hineingefallen in die Zeit, die darauf folgte. Aber die Empfindung ist geblieben. Aus ihr heraus formte er die Gestalt seines Parsifal, jene Gestalt, in welcher das Gefühl zum Wissen erhoben wird, wo man durch das Mitfühlen wissend, „durch Mitleid wissend“ wird. Und die ganze Entwicklung, wie die menschliche Natur verwundet wird durch die unreine Lanze – das tritt uns im Amfortas-Geheimnis entgegen. Wir sehen, wie da aufleuchtet das mystische Geheimnis vom heiligen Gral. Nicht mit groben Händen darf man so etwas anfassen. Man muss das ganze Gefühl verfolgen und die Begriffe in ihrer Totalität vor die Seele hinstellen. So sehen wir überall, wie Richard Wagner vielleicht nicht mystisch gedacht hat, aber wie er als Künstler und Mensch alles, was er tat, mystisch darlegte. Darauf kommt es an.

Nicht eine Theorie sollen wir in der Geisteswissenschaft empfangen, sondern etwas, was unmittelbares Leben wird. In diesem Sinn empfand Richard Wagner klar seine Sendung, so klar, so mystisch, dass er sich sagen konnte: Eine solche Kunst, wie sie in mir als Ideal lebt, muss wieder ein göttlicher Dienst sein. – Er hat empfunden wiederum das Zusammenfließen der drei Strömungen und wollte selbst ein Sendbote des Zusammenwirkens sein. Aus seiner mystischen Erkenntnis geht das hervor, was doch als mystisch-klares Fühlen in allen großen Meistern gelebt hat und was wir empfinden, wenn wir die großen Meister in ein Verhältnis bringen mit und zu der Mystik. Goethe hat es empfunden. Dann wird der Mensch wieder gesund, fühlt etwas von dem, wodurch er sein Selbst überwindet, wenn er das durchlebt, was in den „Geheimnissen“ steht:

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
befreit der Mensch sich, der sich überwindet.

Wenn diese Stimmung des Loskommens vom Ich, des Sichhineinlebens in die Weltengeheimnisse durch alle Kräfte pulsiert, dann ist der Mensch Mystiker auf allen Gebieten. Ob äußerlich religiös oder wissenschaftlich oder künstlerisch – er ringt sich zusammen zur Einheit im Sinne der einheitlichen Menschennatur. Das ist, was Goethe als das Geheimnis eines jeden ganzen Menschen aussprechen wollte, als er sein eigenes Seelengeheimnis zusammenfasste in die Worte:

Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion.
Wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion.