Rudolf Steiner

Richard Wagner im Lichte der Geisteswissenschaft

4. Vortrag

BERLIN, 19. MAI 1905

Erstveröffentlichung in: „Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht, Nachrichten für deren Mitglieder“ (1936), Nr. 47-50.

Je tiefer man in das Werk Richard Wagners eindringt, desto tiefer kommt man auch in theosophisch-mystische Fragen und Lebensrätsel hinein. Es ist etwas außerordentlich Bedeutsames, dass Richard Wagner, nachdem er die ganze Vorzeit der europäischen Völker in vier Stufen in seinem Nibelungenring entwickelt hatte, dann ein eminent christliches Drama schuf, das Werk, mit dem er sein Lebenswerk eigentlich abgeschlossen hat, den „Parsifal“. Man muss Wagners ganze Persönlichkeit durchdringen, wenn man verstehen will, was eigentlich in diesem „Parsifal“ lebt.

Für ihn war die Gestalt des Jesus von Nazareth schon seit den vierziger Jahren im Begriff, sich ihm zu gestalten. Er wollte – es sind auch Fragmente davon vorhanden – ein Drama „Jesus von Nazareth“ schreiben, ein Werk, in dem die unendliche Liebe, wie sie in Jesus von Nazareth für die ganze Menschheit wirkt, zur Anschauung gebracht werden sollte. Das wollte er schaffen, aber über die Grundgedanken ist er nicht hinausgekommen. Er entwarf dann in den fünfziger Jahren das Drama „Die Sieger“. An diesen Dramen können wir sehen, aus welchen Tiefen der Weltanschauung heraus die Intuitionen dieses Dichters geschöpft wurden.

Stellen wir uns den Inhalt des Dramas „Die Sieger“ einmal kurz vor Augen: Ananda, ein Jüngling aus vornehmer Kaste, wird leidenschaftlich geliebt von Prakriti, einem Tschandalamädchen, also von einem Mädchen aus verachteter Kaste. Er aber entsagt aller sinnlich-irdischen Liebe und wird ein Jünger Buddhas. Das Tschandalamädchen sollte nach der Intention Wagners in einer früheren Verkörperung eine Angehörige der Brahmanenkaste gewesen sein und damals die Liebe eines Tschandalajünglings mit hochmütiger Verachtung von sich gewiesen haben. Die karmische Strafe ist es nun, in der Tschandalakaste wiedergeboren zu werden. Nachdem sie sich nun so weit durchgearbeitet hatte, dass sie ihrer Liebe entsagen konnte, wird auch sie eine Jüngerin des Buddha. Sie sehen, dass Wagner schon das karmische Problem in seiner ganzen Tiefe erfasst hat, als er in der Mitte der fünfziger Jahre daran ging, ein so tiefernstes Musikdrama wie „Die Sieger“ zu schaffen. Alle diese Gedanken sind zuletzt zusammengeflossen in seinem „Parsifal“. Aber zugleich steht im Mittelpunkt des „Parsifal“ das Christus-Problem.

Die Geschichte des Mittelalters hat einen wichtigen Punkt um die Wende des 12. zum 13. Jahrhundert. Da wirkte Wolfram von Eschenbach, der das Mysterium des Parzival dichterisch bearbeitet hat aus dem tiefsten Spirituellen des Mittelalters heraus. Im Mittelalter lebte in den Menschen, die spirituelles Leben hatten, etwas, was man in eingeweihten Kreisen die Erhöhung der Liebe nannte. Liebessänger, Minnesänger gab es auch vorher und nachher. Aber zwischen dem, was man früher als weltliche, sinnliche Liebe auffasste und dem, was später im Christentum als die gereinigte, geläuterte Liebe aufkam, bestand ein großer Unterschied. Ein bedeutsames Denkmal für diesen Wendepunkt des geistigen Lebens im Mittelalter ist uns erhalten geblieben in Hartmann von Aues „Der arme Heinrich“. Dieses tief spirituelle Gedicht ist durchdrungen von den spirituellen Lehren, welche sich die Ritter der Kreuzzüge aus dem Morgenlande mitgebracht hatten. Stellen wir uns den Inhalt des „Armen Heinrich“ vor: Ein Ritter schwäbischen Geschlechtes, dem es bis dahin stets gut ergangen ist, wird von einer unheilbaren Krankheit, der Miselsucht, befallen und kann davon nur durch den Opfertod einer reinen Jungfrau befreit werden. Es findet sich eine Jungfrau, die sich für ihn opfern will. Sie gehen zusammen nach Salerno in Italien zu einem berühmten Arzt. Schon soll die Jungfrau geopfert werden, aber im letzten Augenblick weigert sich Heinrich, das Opfer anzunehmen; die Jungfrau bleibt am Leben, Heinrich wird danach gesund, und sie vermählen sich.

Hier finden wir also wieder das Bild von der reinen Jungfrau, die sich opfert für einen Menschen, der bisher nur im Sinnlichen gelebt hat und nun durch sie gerettet wird. Hier liegt vom Standpunkte des Mittelalters ein Mysterium verborgen. Die Minnesängerei schrieb man einer alten Strömung zu, welche heraufgekommen war in den vier aufeinanderfolgenden Stadien der europäischen Kulturentwicklung, wie sie uns in den Sagen, die Richard Wagner in seiner Tetralogie darstellt, entgegentritt. Auf die Liebe, die nur aus dem Sinnlichen stammt, sah man in jener Zeitepoche zurück als auf etwas, das überwunden werden sollte. Geläutert durch die höhere spirituelle Kraft des Christentums sollte das Minnesängertum in einer neuen Gestalt erstehen.

Wir müssen, wenn wir verstehen wollen, was da geschah, alle Faktoren zusammennehmen, um uns das Gepräge, die Physiog­nomie jener Zeit zurückzurufen. Dann können wir verstehen, was Wagner zur Darstellung dieser Sage veranlasste. Es gab eine alte Sage, eine Ursage, die wir bei den ältesten germanischen Völkern und in etwas anderer Form auch in Italien und anderen Ländern finden können. Wir wollen uns das Gerippe dieser Sage klarmachen: Ein Mensch hat die Freuden der Welt kennengelernt und dringt nun ein in eine Art unterirdische Höhle; dort lernt er ein Weib von übergroßer reizvoller Anziehungskraft kennen. Er erlebt dort gewisse Freuden des Paradieses; doch dann überkommt ihn die Sehnsucht nach der Oberwelt, er kehrt nach einiger Zeit wieder zurück aus dem Berg. Es ist dies besonders klar ausgeführt in der Tannhäuser-Sage. Wenn wir uns diese Sage vergegenwärtigen, so haben wir darin ein schönes Symbol für das alte Liebesstreben in den germanischen Landen vor jener großen Wende, von der ich gesprochen habe: Das Wirken des Menschen in der sinnlichen Welt, das Zurückziehen zu den Freuden der Liebe im alten Sinne, die man sich dachte verkörpert in der Göttin Venus, und das Abgelenktsein von dem Wirken in der Außenwelt durch die Liebe als eine Art Paradies-Empfinden. – Die Sage hat aber in dieser Form keinen richtigen Knotenpunkt. Sie hat nichts, das uns einen Ausblick nach dem Höheren zeigt. Sie ist so entsprungen aus der früheren Anschauung, aus der vorhergehenden Gestalt der Liebe. Später, in den Anfängen der spirituellen Ausgestaltung der Liebe durch das Christentum, wollte man ein Schlaglicht werfen auf die früheren Zeiten und den Gegensatz zeigen zwischen diesem Paradies und der Paradiesesvorstellung im Christentum.

Wenn wir Wagner verstehen wollen, müssen wir noch tiefer greifen. Wir haben unsere fünfte Wurzelrasse betrachtet. Nachdem die Fluten die Atlantis überspült hatten, tauchten nacheinander die Unterrassen auf: die urindische, die urpersische, dann die ägyptisch-babylonisch-assyrisch-chaldäische, dann die griechisch-lateinische, und nach dem Abfluten der römischen Kultur geht unsere fünfte Unterrasse auf, in der wir heute leben und die ihre Bedeutung eigentlich für das christliche Europa hat. Nicht als ob Richard Wagner das alles gewusst hätte, was ich jetzt gesagt habe. Aber er hatte das absolut sichere Gefühl für die Weltlage der fünften Unterrasse, und er empfand die ganze Aufgabe der Gegenwart als eine religiöse Aufgabe, wie man dies auch in der Theosophie nicht besser formulieren kann.

Sie wissen, dass jede dieser „Rassen“ inspiriert wurde von großen Eingeweihten und dass die Urinspiration der fünften atlantischen Rasse ausging von den sogenannten Ursemiten. Sie wissen, dass, als Atlantis von den Fluten verschlungen wurde, diejenigen, welche auswanderten und vor dem Untergang der Rasse bewahrt wurden, von dem Manu, einem göttlichen Führer, nach Asien geführt wurden, in die Wüste Gobi. Von hier aus gingen Kultureinschläge zuerst über Indien nach Vorderasien, Persien, Assyrien, nach Ägypten und dann nach dem Süden von Europa, nach Griechenland, Rom und später auch nach unseren Gegenden.

Nicht mehr verfolgbar für die Geschichte sind die ersten beiden semitischen Kultureinschläge, das sind die Kultureinschläge, die die indische und die urpersische Rasse erhalten haben. Wenn wir aber die chaldäisch-ägyptische Unterrasse betrachten, so müssen wir sagen, dass da ein großer semitischer Impuls stattgefunden hat, von dem das Volk Israel seinen Namen hat. Das Christentum ist auf einen solchen semitischen Einschlag zurückzuführen, der sich dann in die griechisch-lateinische Kultur hineinerstreckt. Wenn wir diesen Kultureinschlägen weiter nachgehen, finden wir den semitisch gefärbten Einfluss durch die maurischen Völker, die nach Spanien eingedrungen waren, über ganz Europa verbreitet, dem sich selbst christliche Mönche nicht entziehen konnten. So erstreckt sich der ursemitische Impuls bis in die fünfte Unterrasse. Wir sehen damit, wie durch die eine große Strömung die Urkultur fünfmal beeinflusst wird.

Von Süden her haben wir einen großen spirituellen Strom, dem eine andere Strömung entgegenwächst, die sich im Norden durch vier Stufen der Urkultur entwickelt hat, bis zum Zusammenfluß beider Strömungen. Ein weltlich-naives Volk wird beeinflusst durch die von Süden heraufkommende Kultur an der Wende des 12. zum 13. Jahrhundert. Wie eine spirituelle Luftströmung empfand man das Hereindringen einer neuen Kultur. Wolfram von Eschenbach stand ganz unter dem Einfluss dieser geistigen Strömung.

Die nordische Kultur ist symbolisiert durch die Sage vom Tannhäuser, wo der Impuls auch vom Süden kommt. Überall finden wir etwas, was wir als den semitischen Impuls bezeichnen können. Aber eines empfand man mächtig: dass die germanische Rasse ein letztes Glied einer Entwicklung sei, dass ganz etwas Neues kommen sollte, dass für die fünfte Unterrasse sich ganz etwas anderes vorbereitet: Das ist die höhere Sendung des Christentums. Eine neue Art des Christentums empfand man in der damaligen Zeit in den germanischen Ländern als Sehnsucht; ein neues Christentum sollte geschaffen werden, losgelöst sollte es werden von dem, was es im Süden durchgemacht hatte. Es sollte das Christentum in reinerer Gestalt noch einmal geschaffen werden. Es bildete sich zur Zeit der Kreuzzüge ein Gegensatz zwischen Rom und Jerusalem. Unter den Schlachtrufen „Hie Rom“ und „Hie Jerusalem“ kämpften die Kreuzfahrer. Das eine bezog sich auf das römische Christentum, das nur noch eine Schale war, das andere auf ein reines Christentum, das man wiederherstellen wollte und für das man in Jerusalem einen geistigen Mittelpunkt sah. So dachten die großen Scholastiker, und so war auch für Dante in seiner „Göttlichen Komödie“ Jerusalem ein Mittelpunkt, der aber mehr in einem geistigen als in einem äußerlichen Sinne zu suchen ist. So empfand man die fünfte Unterrasse als einen Vorboten der Zukunft. Die alten Einflüsse hatten aufgehört, etwas ganz Neues sollte kommen, ein neuer Wirbel der Weltkultur begann. Nur ein Versuch war es, das rechte Christentum zu begründen, aber herausschälen sollte man aus dieser Schale den Kern des echten Christentums. Man empfand an der Wende des Mittelalters etwas Untergehendes, das Aufhören von etwas, was man als Wohltat empfunden hatte, und gleichzeitig empfand man etwas Aufgehendes in der Sehnsucht nach dem Neuen. All dies lebte in Wolfram von Eschenbach.

Nun betrachten Sie die neue Zeit. Stellen Sie sich dies Gefühl vor, erneuert in einer Zeit, als der Niedergang gekommen war, so finden Sie etwas von dem, was in Richard Wagner gelebt hat. Mittlerweile war vieles von dem eingetroffen, was man früher als Niedergang der Rasse empfunden hatte. Richard Wagner hat vom Anfang seines bewussten Lebens an dieses niedergehende Element besonders lebhaft gefühlt. Für ihn waren viele Symptome dafür da, dass der Niedergang da ist und dass eine Neubildung geschehen muss. Das Chaos, welches uns heute in vieler Hinsicht umgibt, die Art und Weise, wie das niedere Volk in unserer Zeit mehr hinsiecht als hinlebt, das Elend der großen europäischen Volksmassen, deren spirituelles Leben im Dunkel bleibt, die abgetrennt sind von aller Bildung, hat niemand tiefer empfunden als Richard Wagner, und daher wurde er im Jahre 1848 Revolutionär. Nicht als gewöhnlichen Revolutionär müssen wir uns Wagner vorstellen, sondern wir müssen ihn so auffassen, dass der Gedanke schwer auf seiner Seele lastete: es ist in unsere Hand gegeben, heute mitzuwirken, entweder den Niedergang zu beschleunigen, das Rad abwärts zu drehen oder aufwärts zu führen. Die Revolution von 1848 war für ihn nur eine äußere Gelegenheit.

Wenn wir das alles so auffassen, werden wir verstehen, wie Richard Wagner zu seinen Ideen über die Rassen kam, wie er sie ausdrückt in seinen Prosaschriften. In seiner Schrift „Religion und Kunst“ sagt er ungefähr folgendes: Wir haben da drüben in Asien in dem indischen Volke etwas von der ursprünglichen Kraft der arischen Rasse. Da lebt etwas von der hohen Kraft spirituellen Lebens, aber nur für eine Elite, für das Brahmanentum. Ausgeschlossen von dieser Lehre sind die niederen Kasten, aber im Brahmanentum ist ein hoher geistiger Standpunkt erreicht, der ein Ausdruck der Urkultur ist. Blicken wir von da nach dem Norden, so sagt sich Richard Wagner, haben wir dort eine naive Rasse, die selbst vier Stufen der Entwicklung durchgemacht hat, ein jagdfrohes Volk, von dem man sich vorstellen muss, dass es als Jäger Freude daran hatte, seine Feinde zu töten. – Die Freude am Töten des Lebendigen ist für Wagner ein Dekadenz-Symptom. Es ist eine tiefe, okkulte Tatsache, dass Leben und Tod in merkwürdiger Weise zusammenhängen mit der Entwicklung des Menschen nach dem Höheren, Reineren, Spirituellen. Alles, was der Mensch vollbringt an Qual, an Vernichtung des Lebens, entzieht seiner Seele spirituelle Kraft. Man mag über einzelne Kulturerscheinungen denken wie man will – jegliche Vernichtung des Lebens ist verknüpft mit dem Entreißen von spirituellen Kräften. Daher muss derjenige, welcher den „schwarzen Pfad“ geht, gerade Leben vernichten. Dies kommt zum Beispiel in dem Roman „Flita“ von Mabel Collins zum Ausdruck. Es ist die Geschichte einer Schwarzmagierin, die ungeborenes Leben vernichtet, weil sie dies für ihre verwerflichen Kräfte braucht. Es ist ein tiefer Zusammenhang zwischen dem Leben, dem Tod und der Entwicklung des Menschen. Es ist dies eine Lektion, die von den Völkern gelernt und durchgemacht werden musste. Etwas anderes war es, wenn in einer bestimmten Zeitentwicklung in naiver Weise getötet wurde; damals erfuhr man durch das Töten die Kraft, die in einem war – in dieser Lage waren die altgermanischen Jägervölker.

Jetzt aber, nachdem das Christentum gekommen war, wurde das anders. Die christliche Lehre enthält das Verbot des Tötens, das Töten ist eine Sünde. Hier ist der Ursprung der Anschauung zu suchen, die Wagner zu einem strengen Vegetarismus führte. Für ihn wird die Ernährung mit Fleisch zu einem Zeichen des Niedergangs einer Rasse, und er bezeichnet es als einzige Möglichkeit des Aufstiegs, wenn die Menschen übergehen zu einer Nahrung, die sie nicht mehr verleitet zum Töten.

Die Empfindung dafür, dass ein neuer Impuls kommen musste, veranlasste Wagner auch zu seinen Ausführungen über den Einfluss des Judentums auf die heutige Kultur. Wagner war nicht Antisemit in dem unsinnigen, gehässigen Sinne, wir man ihn heute erleben kann, aber er fühlte, dass das Judentum seine Rolle als solche ausgespielt hatte, dass die semitischen Einflüsse auf unsere Kultur verglimmen mussten und etwas Neues an deren Stelle treten musste. Daher sein Ruf nach einer Erneuerung. Dies hängt damit zusammen, wie er unsere gegenwärtige Rasse auffasste. Er sagte sich: Wir müssen einen Unterschied machen zwischen Rassenentwicklung und Seelenentwicklung. – Diesen Unterschied muss man machen, wenn man überhaupt die Entwicklung begreifen will.

Wir alle waren einst verkörpert in der atlantischen Rasse; während aber die Seelen sich weiterentwickelt haben und aufgestiegen sind, ist die Rasse in Dekadenz gekommen. Jedes Höhersteigen ist aber verknüpft mit einem Niedersteigen. Für jeden sich Veredelnden gibt es einen Hinabsinkenden. Es ist ein Unterschied zwischen der Seele im Rassenkörper und dem Rassenkörper selbst. Je mehr der Mensch der Rasse ähnlich wird, je mehr er liebt, was zeitlich, vergänglich, mit den Eigenschaften seiner Rasse verbunden ist, desto mehr gehört er dem Niedergang der Rasse an. Je mehr er sich freimacht, sich heraushebt aus den Rasseneigentümlichkeiten, desto mehr hat die Seele die Möglichkeit, sich höher zu verkörpern. Ein solcher Geist wie Wagner, der unterscheidet zwischen Seelenentwicklung und Rassenentwicklung, kann gar nicht Antisemit sein. Er weiß, dass es nicht die Seelen sind, die ausgespielt haben, sondern dass die Rassen ihre Aufgaben ausgespielt haben in der großen Weltentwicklung. Das ist es, was Wagner immer wieder in seinen Schriften ausspricht, wenn er von „Semitismus“ redet. Wagner empfindet Untergang, den Niedergang der Rassen und die Notwendigkeit des Aufsteigens der Seelen. Diese Notwendigkeit empfanden auch mittelalterliche Seelen wie Wolfram von Eschenbach oder Hartmann von Aue.

Wir wollen noch einmal zurückkommen auf die Sage vom armen Heinrich. Wir müssen noch etwas tiefer betrachten, was es heißt, dass der arme Heinrich geheilt wird durch eine reine Jungfrau. Heinrich hat seine Krankheit dadurch, dass er zunächst gelebt hat im Sinnlichen; sein Ich ist geboren aus seiner Rasse heraus, aus dem, was in dieser Zeitepoche sinnlich wirkend ist. Dieses Ich, das aus dem Sinnlich-Wirkenden herausgeboren ist, wird krank, als der Ruf an es – an die Menschheit – herantritt, sich höher zu entwickeln. Die Seele wird krank, weil sie sich verbindet mit dem, was nur in der Rasse leben soll. Dies ist charakterisiert dadurch, wie die Liebe in weltlicher Weise zum Ausdruck kommt. Nun soll aus der in der Rasse lebenden, niederen Liebe die höhere Liebe sich entwickeln. Das in der Rasse Lebende muss erlöst werden durch ein Höheres, durch die höhere, reine Liebe, die sich opfert für die strebende Seele des Menschen, durch das, was Goethe das Ewig-Weibliche nennt, das uns hinanzieht.

Sie wissen – ich habe das schon öfter dargelegt -, dass in jedem Menschen das Männliche und das Weibliche lebt und dass dadurch, dass es auseinandergelegt ist, sich das Sinnliche hineinmischt. Die Erlösung durch das „Ewig-Weibliche“ bedeutet, dass das Sinnliche überwunden wird. Dies wird auch dargestellt in „Tristan und Isolde“. Der historische Ausdruck für diese Überwindung ist für Wolfram von Eschenbach wie für Richard Wagner der Parsifal; er ist der Repräsentant des neuen Christentums. Parsifal wird dadurch König vom heiligen Gral, dass er das erlöst, was früher unter der Knechtschaft des Sinnlichen gelitten hat, und dass er nun ein neues Prinzip der Liebe hineinbringt in die Welt.

Was liegt überhaupt dem Parsifal zugrunde? Was bedeutet der heilige Gral? Die Ursage, die wir auftauchen sehen um die Mitte des Mittelalters, erzählt uns, dass der heilige Gral die Schale ist, deren sich Christus beim Abendmahl bediente und in der Joseph von Arimathia dann das Blut auffing, welches aus der Wunde des Christus Jesus floss. Diese Schale und die Lanze, die diese Wunde geschlagen hatte, wurden von Engeln emporgetragen und in der Luft schwebend erhalten, bis sich Titurel fand, der auf dem Berge Montsalvat – das ist der Berg des Heils – eine Burg erbaute, in der diese Schale aufbewahrt wurde als ein Heiligtum der geistlichen Ritterschaft. Zwölf Ritter sind versammelt, dem heiligen Grale zu dienen. Er hat die Kraft, den Tod abzuwenden von diesen Rittern und ihnen das zu geben, was sie brauchen, um ihre Seelen hinaufzulenken nach dem Spirituellen. Sein Anblick gibt ihnen immer aufs neue spirituelle Kraft.

Nun können wir sogleich auf die Gestalt eingehen, die Richard Wagner der Parsifal-Sage gegeben hat. Es ist im wesentlichen dieselbe, die wir schon bei Wolfram von Eschenbach haben. Wir haben da auf der einen Seite den Gralstempel mit seinen Rittern, auf der anderen Seite das Zauberschloss des Klingsor mit seiner Ritterschaft, die die eigentlichen Feinde der Ritterschaft des Grals sind. Zwei Arten des Christentums werden da einander gegenübergestellt: die eine stellt die Ritterschaft des Grals dar, die andere Klingsor mit seinen Rittern. Klingsor ist derjenige, der sich verstümmelt hat, um nicht der Sinnlichkeit zu verfallen. Das Verlangen aber ist von ihm nicht überwunden worden, er hat es nur unmöglich gemacht, es zu befriedigen. So lebt er noch im Reiche der Sinnlichkeit. Ihm dienen Zaubermädchen. Kundry ist die eigentliche Verführerin in diesem Reich. Sie zieht alles, was zu Klingsor kommt, hin nach der sinnlichen Seite, nach dem, was der Vergangenheit angehören sollte. In Klingsor ist personifiziert das Christentum des Mittelalters, das asketisch geworden ist, das zwar die Sinnlichkeit, nicht aber zugleich das Verlangen abgetötet hat; es rettet nicht vor der verführenden Kraft der sinnlichen Liebe, die in der Kundry personifiziert ist. Etwas Höheres sah man in der Entsagekraft der höheren Spiritualität, die nicht durch Zwang die Sinnlichkeit abtötet, sondern die durch höheres geistiges Erkennen diese Sinnlichkeit veredelt und sich erhebt in das Reich der geläuterten Liebe. Amfortas und die Gralsritterschaft erstreben es, aber es war bis dahin nicht möglich, dieses Reich zu schaffen. Es gelang nicht. Solange nicht die rechte spirituelle Kraft da war, muss Amfortas der Verführung der Kundry verfallen; die höhere Gesinnung in Amfortas fällt der niederen Gesinnung, dem Klingsor, zum Opfer.

So stellt uns die Parsifal-Sage zwei Erscheinungen nebeneinander: auf der einen Seite das Christentum, das asketisch geworden ist, das aber durch die Abtötung der Sinnlichkeit doch nicht höhere, spirituelle Erkenntnis hat erreichen können, und auf der anderen Seite die Repräsentanten der geistigen Ritterschaft, welche aber solange immer Klingsors Verführung zum Opfer fallen, wie der Erlöser nicht erschienen ist, der Klingsor besiegt. Amfortas wird verwundet, verliert die heilige Lanze an Klingsor und muss als schmerzbehafteter König den Gral hüten. So krankt und leidet auch das höhere Christentum. Es muss im Leiden die eigentlichen Geheimnisse, die Mysterien des Christentums hüten, die mit dem heiligen Gral verbunden sind, bis ein Erlöser in neuer Gestalt erscheint – und dieser Erlöser ersteht in Parsifal. Parsifal muss zunächst seine Lektionen lernen, er macht die Prüfungen durch; dann läutert er sich und erhebt sich zu jener spirituellen Kraft, zu dem Gefühl der großen Einheit allen Seins. Wiederum unbewusst stellt uns Richard Wagner tiefe, okkulte Wahrheiten im Parsifal dar. Zuerst macht Parsifal die Stufe durch, wo er das Mitleid lernt, das Mitleid mit unseren älteren Brüdern, den Tieren. Er hat in ungestümem Triebe zur Ritterschaft seine Mutter Herzeleide verlassen, die vor Gram gestorben ist, er hat gekämpft und das Tier getötet. Er hat bei dem scheidenden Blick des Tieres empfunden, was es heißt zu töten. Das ist die erste Stufe seiner Läuterung.

Die zweite Stufe besteht darin, dass er lernt, das Verlangen zu überwinden, ohne äußerlich die Organe des sinnlichen Verlangens abtöten zu müssen. Er gelangt zunächst zum heiligen Gral, erkennt aber seine Aufgabe noch nicht. Er lernt sie kennen, indem er die Initiation des Lebens empfängt. Er verfällt scheinbar der Versuchung durch Kundry, aber er besteht die Prüfung. In dem Augenblicke, wo er der Versuchung unterliegen könnte, entreißt er sich der Macht des Verlangens; eine neue, reine Liebe erstrahlt in ihm gleich einer aufgehenden Sonne. Es blitzt das auf, was wir schon in der Götterdämmerung erstehen sahen. „Et incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria virgine“, geboren vom Geiste durch die Jungfrau – das ist die höhere Kraft der Liebe, welche aus der nicht von der Sinnlichkeit durchtränkten Seele herausgeboren wird, die alle Seelen läutert und reinigt und veredelt. Eine solche Seele muss der Mensch in sich erwecken, die nicht die sinnlichen Organe tötet, sondern die alles Sinnliche veredelt, weil aus der jungfräulichen Materie das Ich, der Christus, geboren wird. Der Christus wird in Parsifal geboren. Eine höhere, jungfräuliche Kraft tritt der verführerischen Kundry entgegen. Überwunden werden muss Kundry, jenes Weibliche, welches das Ich des Menschen herabzieht in die Sphäre des Geschlechtlichen. Es wird uns in der Kundry die Inkarnation dessen entgegengestellt, was als das andere Geschlecht den Menschen herabgezogen hat. Kundry ist schon einmal dagewesen als Herodias, die das Haupt des Johannes verlangte. Sie ist dagewesen in einer ähnlichen Art wie Ahasver als eine Gestalt, die nicht zur Ruhe kommen kann, die überall in der sinnlichen Liebe ihre einzige Erlösung sucht.

Befreiung von der sinnlichen Liebe ist es, was uns Richard Wagner unbewusst hineingeheimnisst hat in seinen Parsifal. Wir sehen, wie dieser Gedanke sich hinaufrankt in seinem Werke. Schon im „Fliegenden Holländer“ wird er durch die intuitive Kraft seines Wesens hingeführt zu demselben Problem: ein Mann, der auf dem Meere herumirrt, wird durch das Opfer einer Jungfrau von seinen langen Irrfahrten erlöst. Es ist auch das Problem des „Tannhäuser“. Den Sängerkrieg auf der Wartburg stellte Wagner dar als den Kampf zwischen dem Sänger der alten, sinnlichen Liebe, Heinrich von Ofterdingen, und Wolfram von Eschenbach, der die Kraft des erneuerten, spirituellen Christentums repräsentiert. In dieser Sage vom Sängerkrieg auf der Wartburg ist es gerade Heinrich von Ofterdingen, der sich den Meister Klingsor von Ungarland zu Hilfe holt. Aber beide werden besiegt durch die Kraft, die ausströmt von Wolfram von Eschenbach. Tiefer verstehen wir nun den Tristan, weil wir wissen, dass es nicht die Ertötung von Liebe, sondern die Klärung und Läuterung der in ihm lebenden Liebe ist, um die es sich handelt.

Aus der Schopenhauerschen Verneinung des Willens schwang sich Richard Wagner auf zu einer Umkehrung und Läuterung des Willens in die höheren Sphären hinein. Wagner hat diese Läuterung sogar zum Ausdruck gebracht in einem Drama, wo es scheinbar gar nicht darin enthalten ist, in den „Meistersingern“. Sozusagen zwischen den Zeilen haben Sie es da in der Reinigung des Hans Sachs von jener Versuchung, die er Eva gegenüber empfindet, sie für sich selbst zu gewinnen. Das liegt nicht so sehr im Text selbst, als in der Musik; wenn Sie die Musik der Meistersinger hören, verspüren Sie etwas von dieser Läuterung.

Zusammengeflossen ist das alles für Richard Wagner in seinem „Parsifal“. Er hat zurückgeblickt nach dem brahmanischen Urideal. Mit Wehmut und Schmerz hat er die Verfallssymptome gesehen in der gegenwärtigen Rasse. Und aus seiner Kunst heraus wollte er einen neuen Impuls schaffen. Die Erlösung der Rasse durch einen neuen spirituellen Inhalt, das war es, was er in seinen Festspielen geben wollte. Aus diesem Geiste heraus schrieb auch Nietzsche, solange er mit Wagner ging, über dionysische Kunst. Er empfand, dass da in den Festspielen etwas lebte von einer Erneuerung der Mysterienspiele des alten Griechenland. Die „Dionysien“ des Aischylos und Sophokles, die uns zurückführen in den Aufgang der vierten Unterrasse, waren etwas, was beigetragen hat zum Aufgehen der Kulturströmung der fünften Unterrasse. In den Tiefen der Mysterientempel des Dionysos empfand man diese Erlösung des Menschen. Erst in den europäischen Ländern ist das herausgekommen, was sich dazumal in den Mysterientempeln abgespielt hat. Wir stehen vor einem Dionysos, der sich in der Materie verkörpert, der im Menschen seine Auferstehung feiert und seine Himmelfahrt. In den Mysterientempeln empfand der griechische Eingeweihte den herabgestiegenen Gott. Es war etwas von Wehmutsstimmung in diesen griechischen Mysterien, wenn man davon sprach, dass in der Zukunft der Gott in den Menschenherzen wieder auferstehen wird. Und in der nordischen Sage sprachen die Eingeweihten, die Druiden, von der Götterdämmerung, aus der ein neues Geschlecht hervorgehen würde. Das Christentum wurde vorausgesagt in den alten Mysterien der Drotten und Druiden. Richard Wagner sah die Zeit nahe, wo sich erfüllen muss das Christentum, das sich herausentwickelt hatte innerhalb der vierten und herauf entwickelt hat in der fünften Unterrasse, wo dieses Christentum seine ureigene Sprache sprechen wird. Jetzt sollen die, die da geglaubt haben, auch wieder zu Schauenden werden.

Richard Wagner hat den Pulsschlag der Erdenentwicklung erlebt, ebenso wie Edouard Schuré, der aus diesem Impuls heraus das alte Mysteriendrama der eleusinischen Mysterien rekonstruiert hat. So zeigt uns das Ereignis Bayreuth den Zusammenfluß zweier Kulturströmungen, das Aufleben der Mysterien Griechenlands und ein neues Christentum. So empfand Richard Wagner, und so empfanden die, die um ihn waren, und so empfand auch Edouard Schuré diese Kunst als ein erstes Vorspiel zu einer Vereinigung dessen, was sich einstmals getrennt hatte. In dem Urdrama [von Eleusis] waren Religion, Kunst und Wissen­ schaft in einem vereint, bis sie sich spalteten. Die Kunst ging für sich – Aeschylos, Sophokles die Religion und Wissenschaft gingen ihre eigenen Wege. Drei Ströme nebeneinander sind so aus der gemeinsamen Wurzel der griechischen Mysterien erwachsen. Jede dieser Strömungen hat nur groß werden können dadurch, dass sie zunächst ihren eigenen Weg ging. Die Zeit fand für das Gemüt einen besonderen religiösen Ausdruck, für die Sinne einen künstlerischen und für die Vernunft einen wissenschaftlichen Ausdruck. So musste es kommen, denn nur, wenn der Mensch auf getrenntem Wege eine jede dieser Fähigkeiten entfalten konnte bis zur höchsten Blüte, konnte eine Vollkommenheit erreicht werden. Die Religion, wenn sie hinaufgeführt ist zu der Höhe der christlichen Weltanschauung, ist bereit, sich wieder zu vereinigen mit der Kunst und der Wissenschaft. Dichtung, Malerei, plastische Kunst und Musik, sie werden erst ihre Höhe erreichen, wenn sie sich wieder vereinigen mit der wirklichen Religion. Und die Wissenschaft, die erst in der Neuzeit zur vollen Entfaltung gelangt ist, hat in Wahrheit den Impuls gegeben zur Vereinigung dieser drei Strömungen.

Jetzt ist durch Richard Wagner, der als einer der ersten den Impuls einer neuen Vereinigung von Kunst, Wissenschaft und Religion empfand, diese Vereinigung als eine neue Weihegabe der Menschheit dargeboten. Er empfand, dass das Christentum berufen ist, dasjenige, was früher getrennt war, wiederum zu vereinigen, und das hat er hineingelegt in die Gestalt seines Parsifal. Wie das große Tönen einer neuen Kultur klingt an unser Ohr jener Karfreitagszauber, in den Wagner seine Karfreitagsstimmung hineingelegt hat. Er erkannte, dass Seelen­ entwicklung und Rassenentwicklung verschiedene Wege gehen müssen, dass es gilt, die Seelen zu erheben und zu erlösen, dass die Auferstehung der Seelen herbeizuführen ist, trotz des tragischen Geschickes, mit dem Körper der Rasse verbunden zu sein, mit dem, was niedergeht. Erklingen lassen die Welt von Tönen, die auf eine neue Zukunft hinweisen, das wollte Richard Wagner durch sein Werk in Bayreuth. Ein kleiner Teil der Menschheit sollte wenigstens auf jene Töne der Zukunft hören. Es ist eine lebendige, künstlerische Apokalypse, die Wagner seiner Zeit verkündete, als ein rechter Prophet, der wusste, dass bald eine neue Zeit anbrechen muss, auf die er hinweisen wollte. So klingt sein Lebenswerk aus:

Die Gesichte, die mir erschienen sind, will ich euch künden, und die Zeiten werden kommen, in denen sie sich verwirklichen werden.