Rudolf Steiner

Richard Wagner im Lichte der Geisteswissenschaft

2. Vortrag

BERLIN, 5. MAI 1905

Erstveröffentlichung in: „Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht, Nachrichten für deren Mitglieder“ (1936), Nr. 45.

Wir werden in diesen Vorträgen sehen, wie Wagner die Gestalten seiner Musikdramen zu den Göttern aufsteigen und wieder zu den Menschen herabsteigen lässt, um innerhalb der Menschheit deren Befreiung und Erlösung darzustellen.

Gleich am Anfang des Nibelungenringes tritt uns das ganze Leitmotiv der fünften Wurzelrasse – des nachatlantischen Zeitalters – entgegen: die Geburt des Ich, des Selbstbewusstseins aus dem astralen Elemente. Das Wasser kennen Sie ja als den okkulten Repräsentanten des Astralen. Wenn wir die Stimmung begreifen wollen, die in Richard Wagner herrscht, müssen wir uns in die nordischen Mythen versetzen. Ohne dass er sich aller Einzelheiten bewusst war, hat er doch die Kraft und Symbolik desjenigen ausgedrückt, was in den Mythen lebt. Wer alles, was sich um die nordischen Götter herumgruppiert, auf sich wirken lässt, wird finden, dass sie etwas Tragisches haben; alles ist auf ein Ende zugespitzt: die Götterdämmerung. Was ist dieser Grundzug, der zu einem so wunderbaren Kunstwerk [wie Wagners „Der Ring des Nibelungen“] geführt hat?

Stellen wir uns vor, wie die Erde zu der Zeit der nordischen Urrasse war. Sie würden ein tropisches Klima finden, eines, das nichts nachgibt dem Tropenklima von heute; menschenähnliche Affen, elefanten- und giraffenähnliche Tiere lebten in diesen Gegenden. Die Natur war wesentlich anders als heute. Nach und nach wurde dies abgelöst von der sogenannten Vereisung, und es treten uns unsere Vorfahren entgegen mit ihrer primitiven Kultur. Aus den Nachwirkungen dieser Vereisung ging unsere spätere germanische Kultur hervor.

Auch im Norden gab es Mysterien und Mysterienschulen. Es gab Drotten- und, mehr nach dem Westen zu, Druiden-Mysterien, sehr tiefe Mysterien. Hinter diesen stand ein Eingeweihter: Wotan. Vor allem in den Ländern mit keltischer Bevölkerung haben sich Reste der alten Druiden-Mysterien erhalten. In England finden sich bis in die Zeit der Königin Elisabeth Spuren davon. Dann wurden sie aufgehoben. Die alten Drotten- und Druiden-Mysterien erzählen von einem Chela, Sig oder Sigge, der seine Individualität in einem bestimmten Lebensalter aufgegeben hat und fähig wurde, eine höhere Individualität in sich aufzunehmen. Es ist dies ein Vorgang, der sich in allen Mysterien beschrieben findet. So bietet auch Jesus bei der Taufe durch Johannes seinen Leib einer höheren Individualität dar. Alles, was mit Sig zusammenhängt, erinnert an das Mysterium, dass ein Chela seine Individualität für ein höheres Wesen aufgeben kann. Wotan war in Sig eingezogen, um das vorzubereiten, was in der Zukunft sich vollziehen sollte.

Jeder Geheimschüler wurde unterrichtet, dass die nordische Götterwelt abgelöst werden würde vom Christentum. Wotans ganzes Wirken ist Vorbereitung für das kommende Christentum. Hier im Norden waren bei den Wanderungen der Atlantier nach der Wüste Gobi einige Stämme zurückgeblieben. Während nun im Süden die Epochen der vier Unterrassen sich entwickelten, ging auch im Norden etwas vor sich. Auch hier spielten sich vier Phasen der Entwicklung ab, die letzte ist die Götterdämmerung selbst.

Wir hören in den nordischen Mythen, wie sich der Verlauf der vier vorbereitenden Epochen darstellte. Wotan wird während dieser Zeit viermal höher initiiert. Bei der ersten Initiation, während der ersten Unterrasse, hängt er neun Tage am Kreuz, am Holz der Weltesche. Dann trat Mimir zu ihm und lehrte ihn die Runen. Auch hier bedeutet das Hängen am Kreuz die Erlösung. In der zweiten Initiation gewinnt er den Weisheitstrank, den Gunlöd in einer Höhle bewachte. Er muss als Schlange in diese unterirdische Höhle dringen. Drei Tage weilt er dort, um den Trank zu gewinnen. In der dritten Initiation, die der dritten Unterrasse entspricht, muss er sein eigenes Auge opfern. Es ist dies das Weisheitsauge der Sagen, das an die einäugigen Zyklopen erinnert, die die Menschen der lemurischen Rasse bedeuten. Dieses Auge ist bei uns längst zurückgetreten. Eine Andeutung ist bei neugeborenen Kindern noch sichtbar. Es ist dies das Hellseherauge. Warum muss Wotan dieses opfern? In jeder Wurzelrasse wird noch einmal kurz wiederholt, was vorher schon durchgemacht wurde. So musste auch in der dritten Unterrasse das Hellsehen noch einmal geopfert werden, damit das heraufziehen konnte, was in Wotan zuerst aufleuchtete, die verstandesmäßige Weisheit, das Kennzeichen der europäischen Anschauungsweise. Die vierte Initiation Wotans ist mit Siegfried, dem Göttersprößling, dem Wotansprößling, verknüpft. Menschliche Initiierte treten zum erstenmal an die Stelle des Gottes.

Siegfried wird initiiert. Er muss Brünhilde, das höhere Bewusstsein wecken; indem er hindurchgeht durch die Flammen, das Feuer, muss er sich von der Leidenschaft reinigen. So macht er die Läuterung, die Katharsis durch. Er hat vorher den Lindwurm getötet, die niedere Sinnlichkeit überwunden. Dadurch ist er unverwundbar geworden; nur zwischen den Schulterblättern ist noch eine Stelle geblieben, an der er verwundet werden kann. Die Verwundbarkeit dieser Stelle ist eine sinnbildliche Hindeutung darauf, dass dieser vierten Unterrasse noch etwas fehlt, was erst das Christentum bringen konnte. Einer musste kommen, der dort unverwundbar ist, wo Siegfried noch verwundbar war – Christus, der das Kreuz zwischen den Schultern trägt, dort, wo Siegfried getötet werden konnte.

Noch ein Anprall, der Ansturm der Atlantier, sollte an dem Christentum scheitern. Die Völkerschaften, die Atli – Attila, Etzel – anführt, sind atlantischer Abstammung. Diese mongolischen Völker weichen zurück vor dem Christentum, das ihnen in dem Papst Leo I. entgegentritt. Das Christentum löst die alte Kultur ab. In den Mythen wurde früher in symbolischen Bildern die Entwicklung dargestellt. So ist es auch mit der Baldur-Mythe. Einen nordischen Initiierten haben wir auch in Baldur zu sehen. Alle Bedingungen der Initiation sind hier erfüllt. Das Baldur-Rätsel verbirgt in sich eine tiefe Wahrheit. Die eigentümliche Stellung Lokis in der nordischen Sage ist nur dadurch zu verstehen. Sie wissen, dass Baldurs Mutter, durch böse Träume erschreckt, alle Wesen schwören ließ, dem Baldur nicht zu schaden. Nur ein unansehnliches Gewächs, die Mistel, wird vergessen, und aus dieser Mistel, die den Eid nicht geleistet hat, fertigt Loki den Pfeil, den er dem blinden Gotte Hödur gibt, als die Götter im Spiele nach Baldur werfen. Der Gott Baldur wird durch diesen Wurf Hödurs getötet.

Sie wissen, dass der Erdenentwicklung eine andere vorangegangen ist: das Mondenzeitalter. Die Mondmaterie war eine dem Lebendigen ähnliche. Einige von den Mondgewächsen blieben stehen auf der damaligen Stufe und ragen so störend hinein in die neue, spätere Welt. Sie können nicht wachsen auf mineralischem Boden, sie können nur auf anderen lebenden Wesen wachsen; sie sind Parasiten. Die Mistel ist so ein Mondgewächs. Loki ist eine Gottheit des Mondes. Er stammt ebenfalls noch aus der Mondepoche. Er war vollkommen während der Mondepoche, jetzt stellt er das Unvollkommene, das Böse, dar. Jetzt verstehen wir auch, warum Loki in Wagners Dramen als Doppelnatur erscheint, als männlich und weiblich zugleich. Wie Sie wissen, fällt die Eingeschlechtlichkeit mit dem Ausscheiden des Mondes aus dem gemeinsamen Planeten zusammen. Der neuen Schöpfung steht der Sonnengott Baldur vor. Es kommt nun zu einem Zusammenstoß der alten und der neuen Schöpfung, dem Mond- und dem Sonnenreich, ein Zusammenstoß, dem Baldur, der Repräsentant der Sonnenkultur, zum Opfer fällt. Der blinde Hödur ist der Repräsentant der blinden Naturnotwendigkeit, die im Mineralreich lebt. Die Schuld musste er auf sich nehmen, um ein gewisses fortschreitendes Element zu ermöglichen. In den Mysterien musste Baldur wieder neu belebt werden, nachdem er von Loki durch Hödur getötet worden war.

Das sind Gefühle, die uns durchdringen, wenn wir den Schöpfungen Richard Wagners folgen. Betrachten wir die Szene im „Rheingold“: Die Rheintöchter hüten den Goldschatz. Der Zwerg Alberich entbrennt zunächst in sinnlicher Begierde für sie. Dann erwacht bei ihm die Lust an dem Gold, und er entsagt der Liebe, weil, wer das Gold und die Macht besitzen will, der Liebe entsagen muss. So schmiedet er den Ring. Was knüpft sich an diesen Ring an? Der Besitz, der Egoismus; solange der Mensch nicht abgeschlossen ist, verlangt er nichts für sich. Der Egoismus beginnt erst da, wo der Mensch vom Ring der Sinnlichkeit umfangen ist. Alberich muss auf die Liebe verzichten; er, der Repräsentant des Selbstbewusstseins, umgibt sich mit dem Physischen. Der physische Körper baut sich auf nach denselben Gesetzen, wie sie die Natur regieren, aus der das Gold der Rheintöchter gewonnen wird. An das Gold knüpft sich der Egoismus, die Sonderexistenz. Das Gold ist hier die Weisheit, die durch Anschauung gewonnen wird, nicht die schaffende Weisheit. Um sie zu erlangen, muss der Mensch sich für diese schaffende Weisheit erst empfänglich machen. Gehen wir zurück in die Zeit, wo der Mensch noch nicht in zwei Geschlechter geteilt war; da hatte er noch nicht die Fähigkeit zu denken, sich durch sein Denken Selbstbewusstsein zu erschaffen. Alles, was er schuf, wurde durch die Liebe geschaffen. Die höhere Geistigkeit musste sich der Mensch dadurch erkaufen, dass er auf die Hälfte der produktiven Kraft verzichtete, dass er eingeschlechtlich wurde.

Woher ist das alles gekommen? Das ist alles gekommen von frü­ her schaffenden Wesenheiten. Die Erde musste in einen anderen Zustand übergehen, damit der Mensch diese feste Leiblichkeit erhalte. Wotan gehörte früheren Zeiten an, den Zeiten des wogenden Feuernebels. Dort, wo noch auf Erden die reinsten Feuerkräfte walteten, als der Geist Gottes über den Wassern brütete, dort war Wotan ursprünglich zu Hause. Jetzt musste Wotan sein Haus zu einer festen Burg umgestalten; die Erde musste erstarren. Das Haus der Götter, Walhall, wurde von den Riesen gebaut. Es sind dies die Menschen der lemurischen Rasse, die Lemurierriesen, die noch keine hohe Geistigkeit haben. Die Riesen, die aus der Leiblichkeit sich herausringende Menschheit, verlangen dafür Freya – wiederum eine weibliche Gestalt. Sie stellt das Bewusstsein dar, das Bewusstsein, das nötig ist, um sich zu erhalten, zu verjüngen.

Und jetzt ist es Loki, der aus dem feurigen Elemente aufbauen kann etwas, was für die niedere Natur richtig ist. Loki befreit Wotan von der Opferung Freyas; Loki bewirkt, dass Freya bei den Göttern bleibt. Was muss der Mensch erlangen? – Den Ring, das, was die gesetzmäßig aufgebaute Leiblichkeit ist. Die Leidenschaft, die für die sinnliche Natur notwendig ist, muss zugunsten der höheren Liebe aufgegeben werden. Bevor die höchste Entfaltung eintritt, muss auch die Seele aufgebaut werden. Die Riesen verzichten auf Freya, auf die Liebe. Die Liebe ist bei den Göttern geblieben. Die Riesen haben sich zufriedengegeben mit dem Ring, dem Element des Goldes, an das sich ein Fluch heftet. Die Liebe kommt erst durch das Christentum wieder hinein.

Es geht ein tragischer Zug durch die nordische Mythologie. Wir sehen, wie es Wotan leid tut, die Herrschaft an einen aus dem Menschengeschlecht Geborenen abzugeben. Er will das Regiment weiter behalten und versucht, den Ring zurückzuerobern. Da lernt er Erda kennen. Er lernt bei Erda Weisheit. Erda ist der Geist der Erde, das Bewusstsein des ganzen Menschengeschlechtes, solange es sich auf der Erde entwickelt. Ihre Töchter, die Nornen, verkünden das höhere Bewusstsein der Erde, sie stellen das Urwissen der Erde über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dar. Sie entwirren das einzelne Erkennen; über dem Einzelwissen steht das Bewusstsein, das mit dem Charakter der Ewigkeit behaftet ist.

Wotan lässt den Ring den Riesen. Da kommt es zwischen diesen zum Kampf. Das Sondersein bewirkt den Streit; und so dringt das Schwertmotiv herein. Im Schwertmotiv drückt sich der Übergang aus von der Menschheit, die bisher noch mehr in der Gemeinschaft gelebt hat, zu der neuen Menschheit, zum Sondersein, zum Krieg gegen einander. Wotan wird sich klar über seine Stellung zur Menschheit, besonders über sein Verhältnis zur fünften Wurzelrasse.

Der Regenbogen führt von Walhall zur Erde. Der Regenbogen hat eine besondere Bedeutung in der okkulten Weisheit. Sie kennen den Regenbogen, der nach der Sintflut erscheint. Jetzt finden wir dieses Symbol wiederholt in den nordischen Mythen. Er bedeutet den Übergang aus der atlantischen Zeit in die nachatlantische. In jener Zeit war die Luft viel dichter, das Wasser viel dünner als heute; die Art Niederschläge wie heute, Regen, hat es nicht gegeben. Ein Regenbogen war in jener Zeit nicht möglich. Das Land, wo das nordische Menschengeschlecht herauswächst, wird nicht mit Unrecht ein Nebelreich, ein Nifelheim genannt. Aus diesem Nebelreich bildeten sich die Wassermassen heraus, die den Kontinent Atlantis überfluteten. Erst zum Schluss der atlantischen Zeit, nach der Überflutung, tritt der Regenbogen auf. Die okkulte Forschung erklärt, was dies bedeutet. In der Bibel, im Sintflut-Regenbogen, wie in der Regenbogen-brücke der nordischen Mythe, tritt uns etwas entgegen, was die Verbindung zwischen Menschen und Göttern darstellt. Wenn Wotan durch Siegfried besiegt wird, bedeutet das, dass der Mensch jetzt an die Stelle der alten Götter tritt. Es wird vorbereitet die Aufgabe der fünften Wurzelrasse, die Menschheitsführer und Meister aus dem Menschengeschlecht selbst hervorgehen zu lassen. Die früheren Menschheitsführer kamen aus höheren Welten herunter. Jetzt wird der ein Meister sein, der durch alle Entwicklungsstufen der Menschheit hindurchgegangen ist – nur schneller als die anderen Menschen -, und der als Vorgeschrittener die Menschheit führt.

Nächstes Mal werden wir nochmals von Siegfried sprechen und noch mehr von dieser Entwicklung hören. Sie werden sehen, wie Wagner, um darzustellen, was die Menschheit am tiefsten bewegte, die Kraft der nordischen Mythen benutzt hat. Darin liegt das ungeheuer Erhebende und Eindringliche der Wagnerschen Dramen.