Der Fliegende Holländer

Wagner Inside

Richard Wagner hatte seinen „Rienzi“ beendet und da seine Lage sich zu diesem Zeitpunkt völlig hoffnungslos anfühlte, trug er gleichzeitig sein Bestreben zu Grabe, die glänzendste Spitze von Paris zu erobern. Hier begann sich die Grundstimmung für den Entwurf des „Fliegenden Holländers“ zu verdichten. Es schloß sich zunächst eine Phase der „Empörung“ an. Da er immer noch auf Lohnarbeit angewiesen war, drückte sich sein Unmut jetzt auch darin aus:

Wie ich in jener Arbeit meine tiefste Demütigung empfand, ergriff ich diese, um mich für die Demütigung zu rächen. Nach einigen allgemeineren musikalischen Artikeln schrieb ich eine Art von Kunstnovelle: „Eine Pilgerfahrt zu Beethoven“, mit welcher im Zusammenhange ich eine zweite folgen ließ: „Das Ende eines Musikers in Paris“. Hierin stellte ich in erdichteten Zügen und mit ziemlichem Humor, meine eigenen Schicksale, namentlich in Paris, bis zum wirklichen Hungertode, dem ich glücklicherweise allerdings entgangen war, dar. Was ich schrieb, war in jedem Zuge ein Schrei der Empörung gegen unsre modernen Kunstzustände …

Meinen wenigen treuen Freunden, mit denen ich in trübselig traulicher Zurückgezogenheit des Abends bei mir mich zusammenfand, hatte ich hiermit aber ausgesprochen, daß von mir vollständig mit jedem Wunsche und jeder Aussicht auf Paris gebrochen, und der junge Mann, der mit jenem Wunsch und jener Aussicht nach Paris kam, wirklich des Todes gestorben sei.

Wagner hatte sich jetzt vorläufig aller allgemeinen schriftstellerischen Triebkräfte, wie Ironie und bitterem oder humoristischem Sarkasmus entledigt und fühlte, seinem Schaffensdrang jetzt nur durch wirkliches künstlerisches Gestalten entsprechen zu können.

Es war eine wollüstig schmerzliche Stimmung, in der ich mich damals befand; sie gebar mir den längst bereits empfangenen „Fliegenden Holländer“.

die Empfängnis war genau so alt, als die Stimmung, die sich anfangs in mir nur vorbereitete, und, gegen berückende Eindrücke ankämpfend, endlich zu der Äußerungsfähigkeit gelangte, daß sie in einem ihr angehörigen Kunstwerke sich ausdrücken konnte.

Wagner sieht in der Grundstimmung des Holländers einen uralten Impuls, der sich auch schon in früheren Sagen ausdrückte:

Die Gestalt des „Fliegenden Holländers“ ist das mythische Gedicht des Volkes: ein uralter Zug des menschlichen Wesens spricht sich in ihm mit herzergreifender Gewalt aus. Dieser Zug ist, in seiner allgemeinen Bedeutung, die Sehnsucht nach Ruhe aus Stürmen des Lebens. In der heitern hellenischen Welt treffen wir ihn in den Irrfahrten des Odysseus und in seiner Sehnsucht nach der Heimat, Haus, Herd und – Weib, dem wirklich Erreichbaren und endlich Erreichten des bürgerfreudigen Sohnes des alten Hellas. Das irdisch heimatlose Christentum faßte diesen Zug in die Gestalt des „Ewigen Juden“: diesem immer und ewig, zweck- und freudlos zu einem längst ausgelebten Leben verdammten Wanderer blühte keine irdische Erlösung; ihm blieb als einziges Streben nur die Sehnsucht nach dem Tode, als einzige Hoffnung die Aussicht auf das Nichtmehrsein.

Und er spannt den Bogen weiter in seine Zeitepoche, in der sich das damalige Weltbild und die Weltsicht erweitert haben.

Am Schlusse des Mittelalters lenkte ein neuer tätiger Drang die Völker auf das Leben hin: weltgeschichtlich am erfolgreichsten äußerte er sich als Entdeckungstrieb. Das Meer ward jetzt der Boden des Lebens, aber nicht mehr das kleine Binnenmeer der Hellenenwelt, sondern das erdumgürtende Weltmeer. Hier war mit einer alten Welt gebrochen; die Sehnsucht des Odysseus nach Heimat, Herd und Eheweib zurück hatte sich, nachdem sie an den Leiden des „Ewigen Juden“ bis zur Sehnsucht nach dem Tode genährt worden, zu dem Verlangen nach einem Neuen, Unbekannten, noch nicht sichtbar Vorhandenen, aber im voraus Empfundenen, gesteigert. Diesen ungeheuer weit ausgedehnten Zug treffen wir im Mythos des fliegenden Holländers, diesem Gedichte des Seefahrervolkes aus der weltgeschichtlichen Epoche der Entdeckungsreisen.

Nach dieser Sichtweise entsteht, wenn man so will, eine Neugeburt der Sehnsucht nach dem Unbestimmbaren, aber auf einer höheren Spirale einer Sehnsuchts-Evolution. Andersherum ausgedrückt: Der Ruf des im Menschen versunkenen Gottes dringt deutlicher ins Bewusstsein.

Wagner weiter:

Wir treffen auf eine vom Volksgeiste bewerkstelligte, merkwürdige Mischung des Charakters des ewigen Juden mit dem des Odysseus. Der holländische Seefahrer ist zur Strafe seiner Kühnheit vom Teufel (das ist hier sehr ersichtlich: dem Elemente der Wasserfluten und der Stürme) verdammt, auf dem Meere in alle Ewigkeit rastlos umherzusegeln. Als Ende seiner Leiden ersehnt er, ganz wie Ahasveros, den Tod; diese, dem ewigen Juden noch verwehrte Erlösung kann der Holländer aber gewinnen durch – ein Weib, das sich aus Liebe ihm opfert: die Sehnsucht nach dem Tode treibt ihn somit zum Aufsuchen dieses Weibes; dies Weib ist aber nicht mehr die heimatlich sorgende, vor Zeiten gefreite Penelope des Odysseus, sondern es ist das Weib überhaupt, aber das noch unvorhandene, ersehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib, – sage ich es mit einem Worte heraus: das Weib der Zukunft.

Dies war der „Fliegende Holländer“, der mir aus den Sümpfen und Fluten meines Lebens so wiederholt und mit so unwiderstehlicher Anziehungskraft auftauchte; das war das erste Volksgedicht, das mir tief in das Herz drang, und mich als künstlerischen Menschen zu seiner Deutung und Gestaltung im Kunstwerke mahnte.

Dieses „Weib der Zukunft“, wie Richard Wagner den Zielpunkt seines Ersehnens beschreibt, wird ihn noch bis zu seiner letzten Lebensstunde in Venedig begleiten.

An anderer Stelle bringt er diese unbestimmbare Sehnsucht noch in Zusammenhang mit dem Wunsch nach Heimat:

Es war das Gefühl der Heimatlosigkeit in Paris, das mir die Sehnsucht nach der deutschen Heimat erweckte: diese Sehnsucht bezog sich aber nicht auf ein Altbekanntes, Wiederzugewinnendes, sondern auf ein geahntes und gewünschtes Neues, Unbekanntes, Erstzugewinnendes, von dem ich nur das eine wußte, daß ich es hier in Paris gewiß nicht finden würde. Es war die Sehnsucht meines fliegenden Holländers nach dem Weibe, – aber, wie gesagt, nicht nach dem Weibe des Odysseus, sondern nach dem erlösenden Weibe, dessen Züge mir in keiner sicheren Gestalt entgegentraten, das mir nur wie das weibliche Element überhaupt vorschwebte; und dies Element gewann hier den Ausdruck der Heimat d. h. des Umschlossenseins von einem innig vertrauten Allgemeinen, aber einem Allgemeinen, das ich noch nicht kannte, sondern eben erst nur ersehnte, nach der Verwirklichung des Begriffes „Heimat“; wogegen zuvor das durchaus Fremde meiner früheren engen Lage als erlösendes Element vorschwebte, und der Drang, es aufzufinden, mich nach Paris getrieben hatte. Wie ich in Paris enttäuscht worden war, sollte ich es nun auch in Deutschland werden. Mein fliegender Holländer hatte allerdings die neue Welt noch nicht entdeckt: sein Weib konnte ihn nur durch ihren und seinen Untergang erlösen.

Es gibt im Weltprozeß ein planmäßiges Geschehen, welches die allermeisten Menschen in Unbewußtheit vorwärts drängt. Eine kleinere Gruppe vernimmt den Klang der Glocken wohl, kann aber nicht erkennen, woher der Klang kommt. Und einige Wenige reagieren positiv, sodass eine reale Möglichkeit gegeben ist, ihre Seelen verwandeln und emporziehen zu lassen.

Richard Wagner hörte die Glocken, doch konnte er ihren Ruf zum Zeitpunkt der Schaffung seines „Fliegenden Holländers“ noch unklar vernehmen. Doch selbst das ist ein großer Gewinn für die Menschheit, da er die Fähigkeit besaß, diesen Seelen-Klang in wunderbare Kunstwerke zu verwandeln, die dem suchenden Menschen die Richtung weisen können.

Es kann getrost angenommen werden, daß Wagner seine Kunstwerke aus seinem Leben heraus erschuf. Er schöpfte sie geradezu daraus! Das will heißen: Das Kunstwerk suchte sich seinen Weg in einem Wechselspiel zwischen Wagners Seele und seiner Außenwelt.

Er verwendet keine vordergründige Symbolik, um etwas zu verbergen – wie es manch anderer Künstler tut. In schöpferischer Harmonie gießt er seine Musikdramen. Zeile für Zeile entsteht wie durch ein Brennglas, daß alle Einflüsse bündelt und beseelt.

Das Weib oder das Weibliche, daß Wagner ersehnt, wird auch als Bild oder Symbol für die Seele gebraucht. Mysterienschulen lehren den Menschen, seine Seele so zuzubereiten, daß diese den Bräutigam – den Geist – empfangen kann. Wagner projizierte seine Sehnsucht zwar auf das ideale irdische Weib – daß er später wunderbarerweise ja auch fand – doch das Kunstwerk kann von einem erwachenden Menschen auch mühelos als Seelen-Einweihung entschlüsselt werden, ohne daß es vielleicht Wagners explizite Absicht war.