Parsifal

Wagner Inside

Der im irdischen Menschen angelegte göttliche Kern, das letzte Überbleibsel eines einst unbeschreiblich herrlichen Menschen, bildete die Grundlage, um solch ein Werk, wie den „Parsifal“ zu schaffen. In Richard Wagner lebte ein übervolles Maß an Lebenserfahrungen, das in vielen Inkarnationen der Seele erworben wurde. Ein „Erreichenwollen“ in dieser Welt, mit den Mitteln dieser Welt, war ihm bis in die elementarste Ebene hinein fremd. Macht, Ehre, Ruhm und Geld, die vier Hauptziele alles irdischen Strebens in ihren vielen bunten Abstufungen konnten seinen Begierdenkörper, das astrale Wesen, nicht mehr beeindrucken. Durch seine Ausstrahlung übte er eine ganz natürliche Macht über seine Umgebung aus. Ehre und Ruhm bedeuteten ihm nichts, da ihn ja sowieso keiner verstand und er dadurch in Einsamkeit lebte. Darüber äußerte er sich, als er mit seiner Arbeit am „Parsifal“ mitten im II. Aufzug war, z.B. so:

Das Produzieren ist alles; der Ruhm, das ist wie die Austerschalen. Gar keinen Gefallen finde ich an meinen Sachen außer im Augenblick des Schaffens; die Szene von Klingsor und Kundry z. B., gar keinen Wunsch habe ich, sie wieder vorzunehmen, es ist mir schon alles fremd.

Für Geld zu arbeiten, war ihm grundsätzlich zuwider. Das was er der Welt durch seine Werke brachte, hatte sie ihm durch ein unabhängiges Leben zu entgelten.

Er konnte schlicht mit der Welt nichts anfangen, obwohl er fest darinnen stand. Selbst sagt er dazu:

Wer kann ein Leben lang mit offenen Sinnen und freiem Herzen in diese Welt des durch Lug, Trug und Heuchelei organisierten und legalisierten Mordes und Raubes blicken, ohne zu Zeiten mit schaudervollem Ekel sich von ihr abwenden zu müssen? Verdankte ja auch der „Parsifal“ selbst nur der Flucht vor derselben seine Entstehung und Ausbildung.

Das Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ ist ein geheiligtes Werk, eine Welt in der Welt. Wagners unbeirrtes Streben nach Umsetzung und Verwirklichung seiner Inspirationen schufen ihm ein Vakuum in dieser Welt, in das sich seine Schöpferkraft ergießen konnte. Das war nur möglich durch konsequentes Handeln aus einem Zustand heraus „nicht von dieser Welt“.

Sein Biograph Glasenapp beschreibt es so:

Die Erhabenheit des Genius über seine Zeitumgebung hat wohl nie und in keiner Kulturepoche der Menschheit eine so vollendete Offenbarung erhalten, als in der Persönlichkeit Richard Wagners. Immer machtvoller, abgeklärter, tiefer und reicher, unerschöpflicher erhebt sie sich in seinen verschiedenen Lebensepochen von einer Entwicklungsstufe zur andern, um auf der letzterrungenen trotz aller ihm bereiteten Leiden in der vollen ungetrübten Reinheit und Größe des siegreichen Überwinders dazustehen. Mit allem blöden und gehässigen Widerstande hatte jene Zeitumgebung es nicht verhindern können, dass er ihr in seinen Schöpfungen wie in seiner Person ein dauerndes Dokument und Abbild dessen hinterließ, was er ihr hätte sein und werden können, wenn sie – anstatt ihn konsequent zu bekämpfen – auf sein Wollen eingegangen wäre und ihm ihre fördernde Unterstützung dargebracht hätte. Noch mehr: Er, dessen „Reich nicht von dieser Welt“ war, stand sogar im Begriff, ihr den lebenskräftigen Keim einer neuen Welt, einer „Welt in der Welt“ zu hinterlassen, in welcher sein Wollen und Ringen über die Grenzen seines persönlichen Daseins hinaus weiterlebte. Musste auch das seiner Kunst errichtete edle Gehäuse mehr als ein volles Lustrum im stillen Bayreuth leer und verödet dastehen; war seine Gesundheit durch die ihm bereiteten Nöte und aufreibenden Anstrengungen schwer geschädigt: so sammelte er doch nun seine edelsten künstlerischen Kräfte zu seiner letzten weihevollsten Schöpfung, in welcher der innerste Geist dieser Weltüberwindung zum verklärten Ausdruck gelangte.

Mochte ihm der Neid jener Zeitumgebung seine – in ihren Augen – alles Maß überschreitenden „Erfolge“ missgönnen, – nicht in dem Glanz dieser Erfolge hatte von je sein Sieg über sie bestanden, sondern in seiner stolzen Gleichgültigkeit gegen sie, die ihm nichts bot und nichts zu bieten hatte, und in der Abkehr von ihr. Sie hatte genügend dafür gesorgt, dass seine „Erfolge“ für ihn selbst mit den schmerzhaftesten Stacheln versehen waren; der innerste Hort, das strahlende Zentrum seiner Schöpferkraft lag glücklicherweise außer ihrem Bereich, unnahbar in ihm verschlossen. Abwendung von ihr hieß daher von je das Losungs- und Zauberwort seiner Siege; aus dieser Abwendung einzig quoll ihm die stete Erneuerung der Kraft seines Wollens und Könnens.

„Abkehr von der Welt“ möge hier verstanden werden als Sicht auf die Oberfläche dieser Welt aus einem höheren, wirklicheren Daseinszustand heraus, wie es eben einem Genie eigen ist. Er, der selbst die „Gefängnismauern“ überwunden hatte, konnte nur noch mit tiefem, aber ganz besonderen Mitleid, auf die innerhalb der Mauern umherirrenden Menschen blicken.

Schon knapp 20 Jahre, bevor er die Arbeit am „Parsifal“ begann, 1858, vertraut er dies Mathilde Wesendonck, seiner geistigen Freundin, an:

Ich bin mir darüber klar geworden, warum ich mit niedrigeren Naturen sogar mehr Mitleid haben kann, als mit höheren. Die höhere Natur ist, was sie ist, eben dadurch, dass sie durch das eigene Leiden zur Höhe der Resignation erhoben wird, oder zu dieser Erhebung die Anlagen in sich hat und sie pflegt. Sie steht mir unmittelbar nah, ist mir gleich, und mit ihr gelange ich zur Mitfreude. Deshalb habe ich, im Grunde genommen, mit Menschen weniger Mitleiden, als mit Tieren. Diesen sehe ich die Anlage zur Erhebung über das Leiden, zur Resignation und ihrer tiefen, göttlichen Beruhigung, gänzlich versagt. Kommen sie daher, wie dies durch Gequältwerden geschieht, in den Fall des Leidens, so sehe ich mit eigener, qualvoller Verzweiflung eben nur das absolute, erlösungslose Leiden, ohne jeden höheren Zweck, mit der einzigen Befreiung durch den Tod, somit durch die Bekräftigung dessen, es sei besser gewesen, wenn es gar nicht erst zum Dasein gelangt wäre. Wenn daher dieses Leiden einen Zweck haben kann, so ist dies einzig durch Erweckung des Mitleidens im Menschen, der dadurch das verfehlte Dasein des Tieres in sich aufnimmt und zum Erlöser der Welt wird, indem er überhaupt den Irrtum alles Daseins erkennt. Diese Anlage zur Welterlösung durch das Mitleiden im Menschen aber unentwickelt und recht geflissentlich unausgebildet verkommen zu sehen, macht mir nun eben den Menschen so widerwärtig und schwächt mein Mitleiden mit ihm bis zur gänzlichen Empfindungslosigkeit gegen seine Not. Er hat in seiner Not den Weg zur Erlösung, der eben dem Tiere verschlossen ist; erkennt er diesen nicht, sondern will er sich ihn durchaus versperrt halten, so drängt es mich dagegen, ihm diese Türe gerade recht weit aufzuschlagen, und ich kann bis zur Grausamkeit gehen, ihm die Not des Leidens zum Bewusstsein zu bringen. Nichts lässt mich kälter, als die Klage des Philisters über sein gestörtes Behagen: hier wäre jedes Mitleid Mitschuld. Wie es meine ganze Natur mit sich bringt, aus dem gemeinen Zustande aufzuregen, so drängt es mich auch hier nur zu stacheln, um das große Leid des Lebens zu fühlen zu geben.

Dieses hier angesprochene Mitleid möge in Manchem einige Verwirrung erzeugen, eben weil dieses Mitleid auch eine gewisse „Härte“ mit sich führt. Ein Mensch jedoch, dessen Seelenleben von Kräften erhoben wird, die von außerhalb des „normalen“ dreidimensionalen Daseins einstrahlen, wird schlicht empfindungslos für die Nöte des Ichs in Anderen. Das Ich, das zwar Notwendige, aber auch Selbstbehauptende, sich gegen die ebenfalls anwesenden zur Befreiung drängenden Kräfte Stellende, hindert diese an ihrer Aufgabe.

Deswegen ist dem Menschen angeraten, sich der rufenden himmlischen Stimme im Herzen bewusst zu werden und dazu den Situationen, die ihn zur Resignation führen wollen, nicht immer wieder auszuweichen.

Genau das hat Richard Wagner in Seinem Lebensabschnitt mit M. Wesendonck erfahren und gemeistert. Dies soll auch die Kernaussage des „Parsifal“ andeuten, die in Kürze so beschrieben werden kann:

Parsifal, der Held der Geschichte, zieht in die Welt hinaus. Der Geist – sein Vater Gamuret – und die atmosphärische Ursubstanz – seine Mutter Herzeleide, hat er vergessen, er hat sich von ihnen abgewandt, sie sind tief in ihm versunken in Unbewusstheit. Von dort drängen sie ihn jedoch zur Rück- bzw. Umkehr. So wird er zum Gralsgebiet geführt, um dort in der reinen Atmosphäre ihre Stimme wieder zu vernehmen. König Amfortas zeugt von dem großen Schmerz, seinem inneren Gott aufgrund seines sündigen Wesens nicht in der rechten Weise dienen zu können. Parsifal kann es nicht verstehen, da er noch zu sehr auf das Außen fixiert ist. Als er jedoch im Zaubergarten des eigenen Ichs auf Kundry, sein höheres Selbst, trifft, dringt die Stimme des versunkenen Geistfunkens in sein Bewusstsein, zum Glück, bevor er sich ganz mit Kundry verbunden hat. Das wäre nämlich das unrühmliche Ende seines Weges zu seinem eigenen Seelenheil gewesen. Von da an ist er Teilhaber an einer „Welt nicht von dieser Welt“. Er versteht plötzlich die Klage des Amfortas. In beiden hat sich der Gottesfunken Luft zum Atmen verschafft. Das ist auch der Sinn der Frage, die Parsifal beim ersten Mal noch nicht stellen konnte, weil er nur die Oberfläche betrachten konnte. Jetzt ist es Resonanz, die ihn mit Amfortas verbindet, die ihn das Leid fühlen lässt. Er kann das Leiden des gefangenen Gottesfunkens jetzt empfinden und dadurch den Sinn seines Lebens, diesem zur Befreiung zu verhelfen, in Angriff nehmen.

Wagner war davon überzeugt, dass dieser Moment des Erwachens äußerst bedeutsam ist. Cosima notiert:

Er spricht von seinem jetzt ihn beschäftigenden Thema und sagt, wie mit diesem Gott in sich in den Entwicklungsjahren Wesen wie die Jungfrau von Orléans und Parsifal der Sinnenlust auf ewig durch einen großen Eindruck entrissen seien. Er glaube, dass das Christentum in dieser Weise noch einmal rein und wahr der Welt gepredigt werden könne.

Denn das, was die Kirchen aus Gott gemacht haben, hat nichts mit seinem „Parsifal“ zu tun.

R. freut sich, dass im Parsifal er nicht die Handlung, die in der Kirche vor sich geht, gebracht hätte, sondern alles im Segen des Grales bestehen lässt.

Diesen Gott, der in uns wohnt, nennt er „das angeborene Gegengift gegen den Willen“.

Das tiefe Wissen um eine göttliche Welt, die unabhängig von der irdischen Welt existiert, hat Wagner schon im „Tannhäuser“ angedeutet, als er diesen im Venusberg ausrufen lässt: „Mein Heil ruht in Maria!“

Und getragen von der Lehre Schopenhauers, die ihm nur bekräftigt, was er schon immer in sich hatte, sagt er:

Wie wenig man doch als Individuum sich empfindet, wie könnte man sonst im All sich wohl fühlen; wie könnte man sich nur freuen, indem man denkt, dass in ein paar Jahren alles aufhört, und doch freut man sich, weil die Individualität nichts ist.

Die Zeit, in der Wagner sein letztes großes Werk schuf, also die Jahre ab 1877, waren geprägt von einem harmonischen Einssein mit seiner Familie und seinem Umfeld. Das Theater stand, die ersten Aufführungen des „Ringes“ waren vollbracht, und so war eine gewisse Last von seinem Leben genommen. Sicherlich war da noch das fatale Defizit der Festspiele, das auf ihm allein lastete, aber die prinzipielle Ruhe zum schöpferischen Schaffen war jetzt unantastbar.

Seine Lebenszeit bis zum Alter von ca. 50 Jahren war geprägt von einer irrenden Suche in einer unverstandenen Welt. Jeder Schritt in Richtung seiner inneren Wahrheit stieß auf Widerstand, nichts im Außen bot ihm Unterstützung, Nichts! nirgends eine helfende Hand, von der er sich aufgenommen fühlen konnte. Er fand keinen Ort, den er wirklich sein Zuhause nennen konnte. Ruhelos durch Europa getrieben, waren es immer nur Stationen, wo er beim Herren dieser Welt eine kurze Frist erkaufte, um sein Werk wieder einen Schritt voran zu bringen. Und trotzdem wuchs das Werk und erfasste die Menschenherzen.

Hochverschuldet zu Beginn der 1860er Jahre war es absehbar, dass die Widerstände, die ihn fluchartig verfolgten, in absehbarer Zeit die Oberhand über ihn gewinnen würden, wenn … ja wenn nicht ein Wunder passieren würde. So realitätsfern jedoch jegliche Hilfe war – er wurde mittlerweile auch von der Polizei gesucht – schien sich ein regelrechtes Wunder zu vollziehen. Ludwig II., König von Bayern, berief ihn zu sich und … befreite ihn von allen irdischen Nöten. Mit der Tochter von Franz Liszt, Cosima, fand er eine Lebensgefährtin, die einerseits nur darauf bedacht war, ihm die Ruhe zum Schaffen zu ermöglichen, aber auch in den tiefsten Regungen mit ihm übereinstimmte.

Und so war es möglich, dass sich seine Inspirationen zu einem wunderbaren Werk formen konnten, das, von Ewigkeitswerten erfüllt, gerade diesen Ewigkeitskern im dafür herangereiften Menschen zum Leben erwecken kann. Die Zeitspanne von der Uraufführung 1876 bis heute, ca. 150 Jahre, spielt dabei überhaupt keine Rolle! Solange es Menschen auf dieser Erde gibt, wird es solche mit unirdischer Kraft geladene Impulse geben, immer wieder in einem passenden Kleid an die jeweiligen Verhältnisse angepasst, und immer wieder werden Auserwählte diese Impulse überbringen. Sie werden dann über die Kraft und die Hilfe verfügen, um alle irdischen Widerstände zu überwinden.