Rudolf Steiner

Richard Wagner im Lichte der Geisteswissenschaft

1. Vortrag

ERSTER VORTRAG

BERLIN, 28. MÄRZ 1905

Erstveröffentlichung in: „Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vor­geht, Nachrichten für deren Mitglieder“ (1936), Nr. 44 und 45.

Mythen sind von den großen Eingeweihten den Menschen mitgeteilte Erzählungen, hinter denen große Wahrheiten stecken. Der Trojanische Krieg zum Beispiel stellt den Kampf der dritten mit der vierten Unterrasse der fünften Wurzelrasse dar. Jene hat als Repräsentanten den Laokoon, den Priester aus dem alten Priesterstaat, der zugleich König war, diese den Odysseus, die personifizierte Schlauheit, die in dieser Epoche zur Entwicklung kommende Denkkraft. Auch im Norden finden wir die Entwicklung durch solche Eingeweihte geleitet. In Wales bestand eine Vereinigung von Eingeweihten der heidnischen Zeit, der Priesterherrschaft, als deren höchste Blüte König Artus und seine Tafelrunde erscheint. Ihr gegenüber stand der Bund des heiligen Gral und seine Ritterschaft, die für die Verkündigung des Christentums arbeitete.

Die Kunst, die politische Entwicklung, alles hängt zusammen mit den großen Eingeweihten dieser zwei Vereinigungen, dem Ausdruck heidnischer und christlicher Kultur. Dieser Einfluss der Gralsgemeinschaft wird um die Wende zum 13. Jahrhundert immer größer. Jene Zeit der Staatsgründung bedeutet einen besonderen Wendepunkt in der europäischen Kultur: Die alte Bauernkultur, die auf dem Grundbesitz beruht, wird abgelöst von der bürgerlichen Städtekultur. Das war eine einschneidende Veränderung des ganzen Lebens und Denkens. Nicht ohne Bedeutung ist es daher, wenn wir damals, zur Zeit des Sängerkrieges auf der Wartburg, eine Sage heraufkommen sehen, die Sage von Lohengrin. Was wollte diese Sage im Mittelalter bedeuten?

Heute hat man keine Ahnung von der mittelalterlichen Volksseele. Sie war besonders empfänglich für die geistigen Strömungen, die unter der Oberfläche der Dinge vor sich gingen. Man findet heute, dass die Lohengrin-Sage stark den katholischen Standpunkt hervortreten lässt. Aber man muss bei dem, was uns heute daran stört, bedenken, dass damals die Sage nur wirken konnte, wenn man sie einhüllte in das Gewand dessen, was damals die Seelen wirklich bewegte. Die inbrünstige Frömmigkeit musste der Sage die Einkleidung geben, damit sie etwas von dem hatte, was im Volke lebte. Was sollte also die Sage bedeuten? Eine Initiation, die Einweihung eines Chela zum Arhat, eines Schülers zum Meister. Ein solcher Chela wird zunächst ein heimatloser Mensch, das heißt, er versieht seine Pflichten wie jeder andere, aber er muss sich bemühen, über sein Selbst hinaus­ zublicken und sein höheres Ich heranzubilden. Was sind nun die Eigenschaften der Einweihungsstufen eines Chela?

Erstens: Das Überwinden des Persönlichen, das Freimachen des Gottes in seinem Innern. Zweitens: Freiheit von jedem Zweifel; jede Skepsis hört auf. Die Dinge des Geistigen stehen vor seiner Seele als Tatsachen. Freiheit auch von jedem Aberglauben, denn da er alles selbst zu prüfen vermag, kann er keiner Täuschung mehr verfallen. Auf einer noch höheren Stufe wird ihm dann der Schlüssel des Wissens ausgeliefert. Man sagt, dass er das Sprechen erhält; er wird ein Bote der übersinnlichen Welt. Die Tiefen der geistigen Welt werden ihm offenbar. Das ist die zweite Stufe der Chelaschaft. Die dritte Stufe ist die, wo der Mensch, wie er im gewöhnlichen Leben zu sich „Ich“ sagt, nun zu allen Wesenheiten der Welt „ich“ sagen kann, wo er erhoben wird zur Umfassung des Alls. Auf dieser dritten Stufe bezeichnet man in der Mystik den Chela als „Schwan“; er wird zum Vermittler zwischen dem Arhat, dem Lehrer, und den Menschen. So stellt sich uns der Schwanenritter dar als ein Bote der großen Weißen Loge; so ist Lohengrin ein Bote der Gralsgemeinschaft.

Ein neuer Impuls, ein neuer Kultureinschlag sollte eingeleitet werden. Sie wissen, dass die Seele oder das Bewusstsein in der Mystik als etwas Weibliches dargestellt wird. So wird auch hier das Bewusstsein der neuen, der bürgerlichen Kultur vorgestellt als etwas Weibliches. Dieses Hineindringen einer neuen Kultur ist aufgefasst als ein Höherrücken des Bewusstseins. Dargestellt in Elsa von Brabant ist die mittelalterliche Seele, und Lohengrin, der große Eingeweihte, der Schwan im dritten Grade der Chelaschaft, bringt die neue Kultur herüber aus der Gralsgemeinschaft. Es darf nicht gefragt werden. Es ist eine Profanation und ein Missverständnis, den Eingeweihten nach dem zu fragen, was Geheimnis bleiben muss.

So geschieht das Aufrücken in neue Bewusstseinszustände immer durch die Einwirkung von großen Eingeweihten. Als ein Beispiel, wie diese Eingeweihten wirken, möchte ich an Jakob Böhme erinnern. Sie wissen, dass Jakob Böhme tiefe Wahrheiten verkündigt hat. Woher hatte er diese Weisheit? Er erzählt, dass er einst als Lehrling allein in dem Laden seines Meisters gelassen wurde. Da kam ein fremder Mann und verlangte ein Paar Schuhe. Der Knabe darf sie ihm in Abwesenheit des Meisters nicht verkaufen; der Fremde redete noch einige Worte zu ihm, entfernte sich dann, rief aber nach einer Weile den jungen Böhme heraus und sagte zu ihm: Jakob, du bist noch klein, aber du wirst einst ein ganz anderer Mensch werden, über den die Welt in Erstaunen ausbrechen wird. – Was bedeutet das? Es handelt sich hier um eine Einweihung; der Moment der Initiation ist dargestellt. Vorläufig erfasst der Knabe noch nicht, was ihm geschehen ist, aber der Impuls ist gegeben.

So ein Moment stellt sich auch in der Lohengrin-Sage dar. Solche Sagen sind wichtige Hinweise, nur durchschaubar für den, der die Dinge im Zusammenhang sehen kann. Die Lohengrin-Sage erscheint, wie schon erwähnt, in Verbindung mit der Sage vom Sängerkrieg. Richard Wagner benutzte sie zu seiner Lohengrin-Dichtung. Wir sehen daran, wie hoch die innere Berufung Richard Wagners war.

Einen anderen uralten Sagenstoff behandelt Richard Wagner in seinem „Ring des Nibelungen“. Es handelt sich um alte germanische Sagen, in denen das Geschick desjenigen Volksstammes lebte, der nach der großen atlantischen Flut als Reste der atlantischen Bevölkerung über Europa und Asien sich verbreitete und die nachatlantische Zeitepoche einleitete. Die Sagen enthalten eine Erinnerung an den großen Eingeweihten Wotan, den Asengott. Wotan ist ein Eingeweihter aus der atlantischen Zeit, wie alle die nordischen Götter nichts anderes sind als alte, große Eingeweihte.

In der Beschäftigung Wagners mit der Siegfried-Sage können wir drei Stufen deutlich unterscheiden. Auf der ersten Stufe finden wir eine Betrachtung der modernen Kultur. Für Richard Wagner sind die Menschen heute zu Tagelöhnern der Kultur geworden. Er sieht den großen Unterschied zwischen dem Menschen in der neueren Zeit und dem der mittelalterlichen Zeit. Heute ist das, was von den Menschen an Arbeit geleistet wird, zum großen Teil Maschinenarbeit, während in der mittelalterlichen Kultur alle Arbeit Ausdruck der menschlichen Seele war. Das Haus, das Dorf, die Stadt, alles, was in ihnen lebte, war sinnvoll gestaltet; der Mensch hatte seine Freude daran. Was sind uns heute unsere Magazine, unsere Läden, unsere Städte? Welche Beziehung haben sie zu unserer Seele? Damals war das Haus der Ausdruck einer künstlerischen Idee. Das ganze Straßenbild, in der Mitte der Stadt der Markt mit dem Dom, der alles überragte, zu dem alles hintendierte, war ein Ausdruck der Seele. Diesen Gegensatz empfand Wagner. Das wollte er in seiner Kunst erreichen: etwas hinzustellen, was wenigstens auf einem Gebiete den Menschen ganz erscheinen lässt. Einen ganzen, harmonischen Menschen, gegenüber dem Tagelöhner der Industrie, wollte Wagner mit seinem Siegfried darstellen. So haben unsere großen Geister immer empfunden, so empfand Goethe, so Hölderlin, der es so aussprach: Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen. Nicht äußerlich war eine Umkehr möglich; nicht zurückschrauben lässt sich unsere ganze Entwicklung. Deshalb wollte Wagner, dass ein Kunsttempel erstehen sollte, in dem das Gesamtkunstwerk die Menschen erheben sollte über ihr gewöhnliches Leben. Die neue Zeit gerade brauchte eine solche Stätte der Erhebung, gerade weil das moderne Leben so zersplittert war. Dies war die erste Idee der Siegfried-Dichtung, mit der sich Wagner beschäftigte.

Doch ein zweiter Plan trat ihm vor die Seele, als er sich in noch tiefere Schichten seiner Empfindungen versenkte. Im frühen Mittelalter hat eine alte Sage in die deutsche Dichtung Eingang gefunden: „Die Wibelungen“. In solch einer Sage lebte damals das tiefste Empfinden der Volksseele. Nur wer die Volksseele wirklich studiert, kann sich einen Begriff davon machen, was damals im Herzen der Menschen lebte. Solche Sagen waren der Ausdruck tiefinnerlicher, großer Wahrheiten. Zum Beispiel die Sagen von Karl dem Großen. Nicht historisch im heutigen Sinne wurde von dem Kaiser berichtet, man sah tiefer hinein in die alten Zusammenhänge. Das fränkische Königsgeschlecht wurde da zu den alten Ahnen der späteren nachatlantischen Wurzelrasse. Die Wibelungen waren Priesterkönige, die nicht nur ihre Reiche versorgten, sondern zugleich den geistigen Einschlag gaben. Eine Erinnerung waren diese Sagen an eine große Zeit, die verklungen war. In dieser Hinsicht wurde die Krönung Karls des Großen in Rom als etwas besonders Wichtiges angesehen. In uralten Zeiten waren die Wibelungen die geweihten Priesterkönige gewesen; die Erinnerung daran pflanzte sich fort in den deutschen Kaisersagen. Auf diese wurde Wagner hingeführt.

Eine Gestalt besonders schien ihm den Kontrast darzustellen zwischen der neuen Zeit des materiellen Besitzes und der mittelalterlichen Zeit, die noch Zusammenhang hatte mit jener geistigen Kultur. Es war die Barbarossa-Sage, die ihn beschäftigte. Auch in Barbarossa stellt sich uns ein großer Eingeweihter dar. Es wird von seinem Zug nach dem Morgenlande erzählt; von dort soll er die höhere Weisheit, die Erkenntnis, den heiligen Gral zurückholen von den dortigen Eingeweihten. Der Mythos des 12. und 13. Jahrhunderts lässt den Kaiser verzaubert im Innern des Berges sitzen; seine Raben bringen ihm Kunde von dem, was in der Welt vorgeht. Die Raben sind ein altes Symbol der Mysterien. In der persischen Mysteriensprache drücken sie die unterste Stufe der Eingeweihten aus; sie sind also die Boten der höheren Eingeweihten. Was sollte dieser Eingeweihte bringen? Richard Wagner wollte darstellen die Ablösung der alten Zeit durch die neue mit ihren Besitzverhältnissen. Was früher lebte, hatte sich zurückgezogen wie Barbarossa. Das Eingreifen der Eingeweihten kristallisierte sich ihm in Barbarossa.

Dieser Gedanke leuchtet noch durch in den „Nibelungen“. Erst äußerlich gefasst, jetzt auf tieferer Grundlage, wird er der Ausdruck der tiefen Anschauung des Mittelalters, in der sich die Heraufkunft einer neuen Kultur darstellt. Doch noch einmal sucht Wagner eine noch tiefere Erfassung dieses Gedankens; er wählt statt des Barbarossa schließlich die Figur des Wotan, mit unendlich tiefer, intuitiver Erfassung der alten germanischen Göttersagen. Sie stellen dar die Ablösung der atlantischen Kultur, das Hervorgehen der fünften Wurzelrasse aus der vierten. Es ist dies zugleich die Entwicklung des Verstandes. Die Ausbildung des menschlichen Verstandes, des Selbstbewusstseins, war noch nicht bei den Atlantiern vorhanden. Sie lebten in einer Art von Hellsehen. Erst bei der fünften Unterrasse der Atlantier, bei den Ursemiten, bildeten sich die ersten Elemente des kombinierenden Verstandes, der weiterlebte in der fünften Wurzelrasse. Damit kommt das Ich-Bewusstsein herauf. Der Atlantier sagte noch nicht mit derselben Intensität „ich“ zu sich selbst wie der Angehörige des folgenden Zeitalters. Herübergebracht wird diese alte Kultur nach dem Untergange der Atlantis; die Europäer sind ein späterer Zweig der Atlantier. Es bildet sich nun ein Gegensatz zwischen der allgemeinen geistigen Kultur und den Eingeweihten, die im Verborgenen wirken und den äußeren Verstand inspirieren.

Die Zwerge des Nifelheim sind die Träger des Ich-Bewusstseins. Als Gegner stellt Richard Wagner einander gegenüber Wotan, den alten atlantischen Eingeweihten, und Alberich, den Träger des Egoismus aus dem Zwergen-geschlechte der Nibelungen, den Initiierten des nachatlantischen Zeitalters. Das Gold ist tief bedeutsam, bedeutungsvoll in der Mystik. Das Gold ist das Licht; das Licht, das ausströmt, wird zur Weisheit. Das Gold, die verhärtete Weisheit, holt Alberich aus dem Rheinstrom. Die Wasser sind immer das Seelische, das Astrale. Aus dem Seelischen wird das Ego, das Gold, die Weisheit des Ich geboren. Der Rheinstrom ist die Seele des neuen Zeitalters, in dem der Verstand, das Ich-Bewusstsein aufgeht. Alberich bemächtigt sich des Goldes, er entreißt es den Rheintöchtern, dem weiblichen Element, die den ursprünglichen Bewusstseins-zustand charakterisieren. Tief in Wagners Seele hat dieser Zusammenhang gelebt. Das Heraufholen des Ich-Bewusstseins in diesem neuen Zeitalter ist gewaltig gefühlt, gewaltig dargestellt im Beginn des „Rheingold“ in den Akkorden in Es-Dur. Das lebt und webt auch musikalisch durch Wagners Rheingold. Wagner hatte Dichtungen vor sich, die aus den Urmythen stammten. In diesen Sagen lebte etwas, das, mit Kraft und Leben erfüllt, die Seele durchsetzt mit geistigem Rhythmus. Was man selbst lebt und ist, es wird wach, es erklingt und durchdringt den Menschen in diesen alten Sagen.

BERLIN, 28. MÄRZ 1905

Erstveröffentlichung in: „Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vor­geht, Nachrichten für deren Mitglieder“ (1936), Nr. 44 und 45.

Mythen sind von den großen Eingeweihten den Menschen mitgeteilte Erzählungen, hinter denen große Wahrheiten stecken. Der Trojanische Krieg zum Beispiel stellt den Kampf der dritten mit der vierten Unterrasse der fünften Wurzelrasse dar. Jene hat als Repräsentanten den Laokoon, den Priester aus dem alten Priesterstaat, der zugleich König war, diese den Odysseus, die personifizierte Schlauheit, die in dieser Epoche zur Entwicklung kommende Denkkraft. Auch im Norden finden wir die Entwicklung durch solche Eingeweihte geleitet. In Wales bestand eine Vereinigung von Eingeweihten der heidnischen Zeit, der Priesterherrschaft, als deren höchste Blüte König Artus und seine Tafelrunde erscheint. Ihr gegenüber stand der Bund des heiligen Gral und seine Ritterschaft, die für die Verkündigung des Christentums arbeitete.

Die Kunst, die politische Entwicklung, alles hängt zusammen mit den großen Eingeweihten dieser zwei Vereinigungen, dem Ausdruck heidnischer und christlicher Kultur. Dieser Einfluss der Gralsgemeinschaft wird um die Wende zum 13. Jahrhundert immer größer. Jene Zeit der Staatsgründung bedeutet einen besonderen Wendepunkt in der europäischen Kultur: Die alte Bauernkultur, die auf dem Grundbesitz beruht, wird abgelöst von der bürgerlichen Städtekultur. Das war eine einschneidende Veränderung des ganzen Lebens und Denkens. Nicht ohne Bedeutung ist es daher, wenn wir damals, zur Zeit des Sängerkrieges auf der Wartburg, eine Sage heraufkommen sehen, die Sage von Lohengrin. Was wollte diese Sage im Mittelalter bedeuten?

Heute hat man keine Ahnung von der mittelalterlichen Volksseele. Sie war besonders empfänglich für die geistigen Strömungen, die unter der Oberfläche der Dinge vor sich gingen. Man findet heute, dass die Lohengrin-Sage stark den katholischen Standpunkt hervortreten lässt. Aber man muss bei dem, was uns heute daran stört, bedenken, dass damals die Sage nur wirken konnte, wenn man sie einhüllte in das Gewand dessen, was damals die Seelen wirklich bewegte. Die inbrünstige Frömmigkeit musste der Sage die Einkleidung geben, damit sie etwas von dem hatte, was im Volke lebte. Was sollte also die Sage bedeuten? Eine Initiation, die Einweihung eines Chela zum Arhat, eines Schülers zum Meister. Ein solcher Chela wird zunächst ein heimatloser Mensch, das heißt, er versieht seine Pflichten wie jeder andere, aber er muss sich bemühen, über sein Selbst hinaus­ zublicken und sein höheres Ich heranzubilden. Was sind nun die Eigenschaften der Einweihungsstufen eines Chela?

Erstens: Das Überwinden des Persönlichen, das Freimachen des Gottes in seinem Innern. Zweitens: Freiheit von jedem Zweifel; jede Skepsis hört auf. Die Dinge des Geistigen stehen vor seiner Seele als Tatsachen. Freiheit auch von jedem Aberglauben, denn da er alles selbst zu prüfen vermag, kann er keiner Täuschung mehr verfallen. Auf einer noch höheren Stufe wird ihm dann der Schlüssel des Wissens ausgeliefert. Man sagt, dass er das Sprechen erhält; er wird ein Bote der übersinnlichen Welt. Die Tiefen der geistigen Welt werden ihm offenbar. Das ist die zweite Stufe der Chelaschaft. Die dritte Stufe ist die, wo der Mensch, wie er im gewöhnlichen Leben zu sich „Ich“ sagt, nun zu allen Wesenheiten der Welt „ich“ sagen kann, wo er erhoben wird zur Umfassung des Alls. Auf dieser dritten Stufe bezeichnet man in der Mystik den Chela als „Schwan“; er wird zum Vermittler zwischen dem Arhat, dem Lehrer, und den Menschen. So stellt sich uns der Schwanenritter dar als ein Bote der großen Weißen Loge; so ist Lohengrin ein Bote der Gralsgemeinschaft.

Ein neuer Impuls, ein neuer Kultureinschlag sollte eingeleitet werden. Sie wissen, dass die Seele oder das Bewusstsein in der Mystik als etwas Weibliches dargestellt wird. So wird auch hier das Bewusstsein der neuen, der bürgerlichen Kultur vorgestellt als etwas Weibliches. Dieses Hineindringen einer neuen Kultur ist aufgefasst als ein Höherrücken des Bewusstseins. Dargestellt in Elsa von Brabant ist die mittelalterliche Seele, und Lohengrin, der große Eingeweihte, der Schwan im dritten Grade der Chelaschaft, bringt die neue Kultur herüber aus der Gralsgemeinschaft. Es darf nicht gefragt werden. Es ist eine Profanation und ein Missverständnis, den Eingeweihten nach dem zu fragen, was Geheimnis bleiben muss.

So geschieht das Aufrücken in neue Bewusstseinszustände immer durch die Einwirkung von großen Eingeweihten. Als ein Beispiel, wie diese Eingeweihten wirken, möchte ich an Jakob Böhme erinnern. Sie wissen, dass Jakob Böhme tiefe Wahrheiten verkündigt hat. Woher hatte er diese Weisheit? Er erzählt, dass er einst als Lehrling allein in dem Laden seines Meisters gelassen wurde. Da kam ein fremder Mann und verlangte ein Paar Schuhe. Der Knabe darf sie ihm in Abwesenheit des Meisters nicht verkaufen; der Fremde redete noch einige Worte zu ihm, entfernte sich dann, rief aber nach einer Weile den jungen Böhme heraus und sagte zu ihm: Jakob, du bist noch klein, aber du wirst einst ein ganz anderer Mensch werden, über den die Welt in Erstaunen ausbrechen wird. – Was bedeutet das? Es handelt sich hier um eine Einweihung; der Moment der Initiation ist dargestellt. Vorläufig erfasst der Knabe noch nicht, was ihm geschehen ist, aber der Impuls ist gegeben.

So ein Moment stellt sich auch in der Lohengrin-Sage dar. Solche Sagen sind wichtige Hinweise, nur durchschaubar für den, der die Dinge im Zusammenhang sehen kann. Die Lohengrin-Sage erscheint, wie schon erwähnt, in Verbindung mit der Sage vom Sängerkrieg. Richard Wagner benutzte sie zu seiner Lohengrin-Dichtung. Wir sehen daran, wie hoch die innere Berufung Richard Wagners war.

Einen anderen uralten Sagenstoff behandelt Richard Wagner in seinem „Ring des Nibelungen“. Es handelt sich um alte germanische Sagen, in denen das Geschick desjenigen Volksstammes lebte, der nach der großen atlantischen Flut als Reste der atlantischen Bevölkerung über Europa und Asien sich verbreitete und die nachatlantische Zeitepoche einleitete. Die Sagen enthalten eine Erinnerung an den großen Eingeweihten Wotan, den Asengott. Wotan ist ein Eingeweihter aus der atlantischen Zeit, wie alle die nordischen Götter nichts anderes sind als alte, große Eingeweihte.

In der Beschäftigung Wagners mit der Siegfried-Sage können wir drei Stufen deutlich unterscheiden. Auf der ersten Stufe finden wir eine Betrachtung der modernen Kultur. Für Richard Wagner sind die Menschen heute zu Tagelöhnern der Kultur geworden. Er sieht den großen Unterschied zwischen dem Menschen in der neueren Zeit und dem der mittelalterlichen Zeit. Heute ist das, was von den Menschen an Arbeit geleistet wird, zum großen Teil Maschinenarbeit, während in der mittelalterlichen Kultur alle Arbeit Ausdruck der menschlichen Seele war. Das Haus, das Dorf, die Stadt, alles, was in ihnen lebte, war sinnvoll gestaltet; der Mensch hatte seine Freude daran. Was sind uns heute unsere Magazine, unsere Läden, unsere Städte? Welche Beziehung haben sie zu unserer Seele? Damals war das Haus der Ausdruck einer künstlerischen Idee. Das ganze Straßenbild, in der Mitte der Stadt der Markt mit dem Dom, der alles überragte, zu dem alles hintendierte, war ein Ausdruck der Seele. Diesen Gegensatz empfand Wagner. Das wollte er in seiner Kunst erreichen: etwas hinzustellen, was wenigstens auf einem Gebiete den Menschen ganz erscheinen lässt. Einen ganzen, harmonischen Menschen, gegenüber dem Tagelöhner der Industrie, wollte Wagner mit seinem Siegfried darstellen. So haben unsere großen Geister immer empfunden, so empfand Goethe, so Hölderlin, der es so aussprach: Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen. Nicht äußerlich war eine Umkehr möglich; nicht zurückschrauben lässt sich unsere ganze Entwicklung. Deshalb wollte Wagner, dass ein Kunsttempel erstehen sollte, in dem das Gesamtkunstwerk die Menschen erheben sollte über ihr gewöhnliches Leben. Die neue Zeit gerade brauchte eine solche Stätte der Erhebung, gerade weil das moderne Leben so zersplittert war. Dies war die erste Idee der Siegfried-Dichtung, mit der sich Wagner beschäftigte.

Doch ein zweiter Plan trat ihm vor die Seele, als er sich in noch tiefere Schichten seiner Empfindungen versenkte. Im frühen Mittelalter hat eine alte Sage in die deutsche Dichtung Eingang gefunden: „Die Wibelungen“. In solch einer Sage lebte damals das tiefste Empfinden der Volksseele. Nur wer die Volksseele wirklich studiert, kann sich einen Begriff davon machen, was damals im Herzen der Menschen lebte. Solche Sagen waren der Ausdruck tiefinnerlicher, großer Wahrheiten. Zum Beispiel die Sagen von Karl dem Großen. Nicht historisch im heutigen Sinne wurde von dem Kaiser berichtet, man sah tiefer hinein in die alten Zusammenhänge. Das fränkische Königsgeschlecht wurde da zu den alten Ahnen der späteren nachatlantischen Wurzelrasse. Die Wibelungen waren Priesterkönige, die nicht nur ihre Reiche versorgten, sondern zugleich den geistigen Einschlag gaben. Eine Erinnerung waren diese Sagen an eine große Zeit, die verklungen war. In dieser Hinsicht wurde die Krönung Karls des Großen in Rom als etwas besonders Wichtiges angesehen. In uralten Zeiten waren die Wibelungen die geweihten Priesterkönige gewesen; die Erinnerung daran pflanzte sich fort in den deutschen Kaisersagen. Auf diese wurde Wagner hingeführt.

Eine Gestalt besonders schien ihm den Kontrast darzustellen zwischen der neuen Zeit des materiellen Besitzes und der mittelalterlichen Zeit, die noch Zusammenhang hatte mit jener geistigen Kultur. Es war die Barbarossa-Sage, die ihn beschäftigte. Auch in Barbarossa stellt sich uns ein großer Eingeweihter dar. Es wird von seinem Zug nach dem Morgenlande erzählt; von dort soll er die höhere Weisheit, die Erkenntnis, den heiligen Gral zurückholen von den dortigen Eingeweihten. Der Mythos des 12. und 13. Jahrhunderts lässt den Kaiser verzaubert im Innern des Berges sitzen; seine Raben bringen ihm Kunde von dem, was in der Welt vorgeht. Die Raben sind ein altes Symbol der Mysterien. In der persischen Mysteriensprache drücken sie die unterste Stufe der Eingeweihten aus; sie sind also die Boten der höheren Eingeweihten. Was sollte dieser Eingeweihte bringen? Richard Wagner wollte darstellen die Ablösung der alten Zeit durch die neue mit ihren Besitzverhältnissen. Was früher lebte, hatte sich zurückgezogen wie Barbarossa. Das Eingreifen der Eingeweihten kristallisierte sich ihm in Barbarossa.

Dieser Gedanke leuchtet noch durch in den „Nibelungen“. Erst äußerlich gefasst, jetzt auf tieferer Grundlage, wird er der Ausdruck der tiefen Anschauung des Mittelalters, in der sich die Heraufkunft einer neuen Kultur darstellt. Doch noch einmal sucht Wagner eine noch tiefere Erfassung dieses Gedankens; er wählt statt des Barbarossa schließlich die Figur des Wotan, mit unendlich tiefer, intuitiver Erfassung der alten germanischen Göttersagen. Sie stellen dar die Ablösung der atlantischen Kultur, das Hervorgehen der fünften Wurzelrasse aus der vierten. Es ist dies zugleich die Entwicklung des Verstandes. Die Ausbildung des menschlichen Verstandes, des Selbstbewusstseins, war noch nicht bei den Atlantiern vorhanden. Sie lebten in einer Art von Hellsehen. Erst bei der fünften Unterrasse der Atlantier, bei den Ursemiten, bildeten sich die ersten Elemente des kombinierenden Verstandes, der weiterlebte in der fünften Wurzelrasse. Damit kommt das Ich-Bewusstsein herauf. Der Atlantier sagte noch nicht mit derselben Intensität „ich“ zu sich selbst wie der Angehörige des folgenden Zeitalters. Herübergebracht wird diese alte Kultur nach dem Untergange der Atlantis; die Europäer sind ein späterer Zweig der Atlantier. Es bildet sich nun ein Gegensatz zwischen der allgemeinen geistigen Kultur und den Eingeweihten, die im Verborgenen wirken und den äußeren Verstand inspirieren.

Die Zwerge des Nifelheim sind die Träger des Ich-Bewusstseins. Als Gegner stellt Richard Wagner einander gegenüber Wotan, den alten atlantischen Eingeweihten, und Alberich, den Träger des Egoismus aus dem Zwergen-geschlechte der Nibelungen, den Initiierten des nachatlantischen Zeitalters. Das Gold ist tief bedeutsam, bedeutungsvoll in der Mystik. Das Gold ist das Licht; das Licht, das ausströmt, wird zur Weisheit. Das Gold, die verhärtete Weisheit, holt Alberich aus dem Rheinstrom. Die Wasser sind immer das Seelische, das Astrale. Aus dem Seelischen wird das Ego, das Gold, die Weisheit des Ich geboren. Der Rheinstrom ist die Seele des neuen Zeitalters, in dem der Verstand, das Ich-Bewusstsein aufgeht. Alberich bemächtigt sich des Goldes, er entreißt es den Rheintöchtern, dem weiblichen Element, die den ursprünglichen Bewusstseins-zustand charakterisieren. Tief in Wagners Seele hat dieser Zusammenhang gelebt. Das Heraufholen des Ich-Bewusstseins in diesem neuen Zeitalter ist gewaltig gefühlt, gewaltig dargestellt im Beginn des „Rheingold“ in den Akkorden in Es-Dur. Das lebt und webt auch musikalisch durch Wagners Rheingold. Wagner hatte Dichtungen vor sich, die aus den Urmythen stammten. In diesen Sagen lebte etwas, das, mit Kraft und Leben erfüllt, die Seele durchsetzt mit geistigem Rhythmus. Was man selbst lebt und ist, es wird wach, es erklingt und durchdringt den Menschen in diesen alten Sagen.