Rudolf Steiner

Parzival und Lohengrin

Vortrag, Köln, 3. Dezember 1905

(GA 92, S. 147-157)

Wir wollen heute in die Sagenwelt des Mittelalters einen Blick werfen vom Standpunkt der theosophischen Weltanschauung aus. Zwei wichtige Sagen sind charakteristisch für die Geistesentwicklung Europas im Mittelalter, die zwei Sagen, die sich um den heiligen Gral gruppieren.

Durch Sagen und Mythen haben sich ja in früheren Zeiten die Wissenden zu dem Volke über die tiefsten Wahrheiten ausgesprochen. Wenn man damals den Menschen, die da lebten, wo heute Nord- und Mitteleuropa ist, solche Begriffe beigebracht hätte, wie wir sie jetzt in der theosophischen Weltanschauung bekommen, so würden die Menschen von dazumal nichts davon gehabt haben. Die Weisen sprachen zu jedem Volk und Zeitalter so, wie das Volk und das Zeitalter sie verstehen konnte. Sie gingen dabei immer aus von dem Gesetz der Wiederverkörperung oder Reinkarnation.

Die Weisen, die in Nord- und Mitteleuropa den Völkern die Geheimnisse der Welt erzählt haben, waren die Druiden. „Druide“ heißt soviel wie „Eiche“. Wenn man sagt, dass die Deutschen „unter Eichen“ ihren Gottesdienst gefeiert haben, so bedeutet das nicht allein, dass sie wirklich unter natürlichen Eichen ihren Gottesdienst feierten, sondern es bedeutet auch, dass sie unter der Leitung der Druiden waren. Und wenn es heißt, dass Bonifatius „die Eiche gefällt“ habe, so bedeutet das, dass der alte Druiden-Gottesdienst durch das Christentum überwunden wurde. In Form der Sage wurde eine wahre Tatsache gegeben. Der Druide brachte die wahren Tatsachen in die Sagen hinein. Der Druidenpriester sprach schon zu all den Seelen, die heute unsere Weltanschauung aufnehmen. Er sprach zu ihnen so, wie es für die damalige Zeit geeignet war. Wir alle, die wir die theo­sophische Weltanschauung aufnehmen, haben dasselbe schon früher als Mythen und Märchen gehört, sonst würden wir es heute gar nicht verstehen können. Das ist das Geheimnis der großen Meister: Sie leben ganz in dem Bewusstsein, dass sie unter Menschen sind, die immer wieder verkörpert werden.

Im ganzen Mittelalter lebten die Grundwahrheiten der germanisch-mitteleuropäischen Kultur in einer großen Sage. Wenn wir diese Sage kennenlernen, verstehen wir, was im Mittelalter vorhanden war. Die Druidenpriester nährten das Bewusstsein, dass einmal fern im Westen eine hohe Kultur da war. Diese Kultur war in einem Lande, das man als Nifelheim oder Nibelungenheim bezeichnete. Dieses Nifelheim war die alte Atlantis. Sie war früher ein Nebelheim wegen ihrer eigentümlichen atmosphärischen Verhältnisse, die ganz anders waren als die unsrigen.

Die germanische Stammsage gibt damit wirklich die Wahrheit wieder. Sie weist hin auf ein uraltes Land, das es einst gab zwischen Europa und Amerika, da, wo jetzt der atlantische Ozean ist. Dieses uralte Land Atlantis ist untergegangen und mit ihm Schätze der Macht und Weisheit. Diese Schätze bezeichnete man als Gold, und ihr Untergehen wird in der Sage erzählt als das Versenken des Goldes des Nibelungenhortes. Der Schatz der Nibelungen soll in neuer Weise gehoben, auferweckt werden, mehr im Osten, in Europa. Erst Wotan, dann Siegfried sind die Eingeweihten, denen die Aufgabe zukam, dem heutigen Europa den alten Schatz wiederzubringen, den Nibelungenhort in gewisser Weise für die neuere Kultur wieder fruchtbar zu machen. Dass die Sage uns einen Eingeweihten „Wotan“ entgegentreten lässt, hilft uns, tief in eine andere uralte Kultur hineinzublicken. Die Buchstaben W und B entsprechen einander. Wotan, Wodan ist dasselbe wie Bodha – Buddha. Wotan ist tatsächlich die germanische Bildung des Wortes Buddha. Wir kommen da auf einen gemeinschaftlichen Ursprung der europäischen Wotan-Religion und der asiatischen Buddha-Religion. Die Buddha- Religion fand nicht so sehr in Indien Verbreitung, sondern bei denjenigen Völkern Asiens, die noch etwas von der atlantischen Kultur in sich hatten. Auch die Wotan-Völker brachten ihre Anschauungen aus der atlantischen Kultur mit. Ihre Weiterentwicklung drückte sich aus in den Sagen, die ihnen die Druidenpriester beigebracht hatten. Besonders schön wird darin das Retten des Nibelungenhortes – der atlantischen Kultur – durch Wotan und Siegfried zum Ausdruck gebracht.

Durch diese Sagen, die von Russland über Deutschland nach Frankreich und England hin zu finden sind, geht ein tragisch prophetischer Zug, der sich überall findet, wo Druidenpriester lehrten. Prophetisch wurde gelehrt: Eine Götterdämmerung wird kommen. Wir sind die Reste der atlantischen Kultur. Wir müssen absterben, damit ein Besseres hineinkommen kann. Unsere Eingeweihten sind Propheten dessen, das da kommt. Bei allen, die in der Art des Siegfried eingeweiht sind, kommt eine bestimmte Tragik zum Ausdruck. Das Nibelungenlied enthält eine uralte Form der Einweihung: die Nibelungennot, die Nibelungenklage. Den ganz intimen Schülern wurde gelehrt, dass ein anderer kommen würde, der das geistige Leben bringen würde. Überall wurde die Stimmung der Götterdämmerung verbreitet. Alle lebten in der Empfindung und die intimen Schüler in der Gewissheit: Einer wird kommen, der wird ganz anders sein als unsere Eingeweihten. – Das drückt die Sage aus durch Siegfried.

In Skandinavien und in Russland hatte man den Druidenmysterien entsprechend die Drottenmysterien. „Drotte“ ist eine andere Form für Druide. Überall in den alten Mysterien ist Sig der Name des ursprünglichen, großen Eingeweihten. Alle Namen, die mit „Sig“ zusammengesetzt sind, führen zurück auf Sig, so zum Beispiel Sigurd, Sigmund, Sieglinde und so weiter. Siegfried war der Eingeweihte, der in der Einweihung den Frieden gefunden hatte. „Friede“ bedeutet das, was den Menschen hinüberführt über alle Zweifel; es ist die Befriedigung der Sehnsucht, der Sehnsucht nach Wissen, nach Macht. Siegfried wird in allen Bildern dargestellt als der Unverwundbare. Achilleus, der griechische Eingeweihte, ist an einer Stelle verwundbar ge­blieben, an der Ferse. Siegfried ist nach der Überwindung des Drachens unverwundbar geworden, bis auf eine Stelle, die Stelle zwischen den Schulterblättern. Das ist da, wo das Kreuz zu tragen ist. Dieses Sinnbild spielte in den alten Mysterien eine tiefe Rolle. Dort wurde gesagt: Ihr seid alle verwundbar an der Stelle, wo einer das Kreuz wird liegen haben. Derjenige, der diese Stelle mit dem Kreuz zudecken wird, der Kreuzträger, der wird der große Eingeweihte sein, der nicht mehr verwundbar ist. – Das gibt der nordischen Sage den großen Zug. Diese Weisheit war eine apokalyptische Weisheit.

Alle Okkultisten wissen, dass diese Weisheit ausgeht von einer zentralen Orakelstätte von zwölf Eingeweihten, von der sogenannten „Weißen Loge“. Von dort wird die Weisheit hinausgetragen in die Welt. Nirgends ist das anders, als dass der einzelne sich in Zusammenhang weiß mit den anderen. Überall waren zwölf Beisitzer der Loge. Solche sind auch die zwölf Apostel. Das Bewusstsein der Ahnenden und die Weisheit der Wissenden führt zurück auf die Tafelrunde des Königs Artus. Diese ist nichts anderes als die große Weiße Loge, die in der Siegfried-Initiation den Völkern klarmachte, was sie der Welt zu sagen hatte. Große Eingeweihte waren Mitglieder der Tafelrunde, die bis in die Zeit der Königin Elisabeth von England in Wales vorhanden war. Dann wurde sie aus politischen Gründen aufgehoben.

Zwei ganz bestimmte politische Strömungen leitete das mittelalterliche Volksbewusstsein auf diese Urzeiten zurück. In dem Frankenvolke, das so glücklich war, den Westen von Europa zu erobern, da gibt es ein Herrschergeschlecht, das eigentlich seinen Ursprung zurückführt in die Zeiten der Atlantis. Man nannte es die „Wibelungen“ oder „Nibelungen“ – daraus ist später das Wort „Ghibellinen“ entstanden. Es war ein altes Bewusstsein da von einem im Frankenvolke aufgehenden Herrschergeschlechte, das wurzelt im alten Nibelungenlande, das in sich vereinigt weltliche Macht und priesterliche Gewalt. Darum hat Karl der Große versucht, sich in Rom die Königskrone aufsetzen zu lassen, um ein geistliches Element zu dem weltlichen hinzuzufügen.

Ursprünglich war alles, was man an Macht voraussetzte, abgeleitet von dem, was von Atlantis herübergekommen war. Dass man dachte und ahnte, dass eine Götterdämmerung kommt, dadurch verband sich auch mit dem Herrschergeschlecht ein gewisser tragischer Zug. Man sagte: Die da wissen wollen, können wohl Eingeweihte werden, aber sie müssen abgelöst werden durch etwas anderes. – Diese Stimmung drückte sich zunächst aus in der bekannten Barbarossa-Sage; es wurde dann noch etwas hinzugefügt, was man in der gewöhnlichen Sage nicht hatte. Barbarossa wurde richtig gedacht als eine Fortsetzung der alten Frankenherrscher. Die Hohenstaufen waren die Ghibellinen, Waiblingen, Wibelungen, Nibelungen, im Gegensatz zu den Welfen, den Guelfen. Die intimere Erzählung fügt zu der bekannten Barbarossa-Sage hinzu, dass Barbarossa von Asien den heiligen Gral nach Europa herüberholte. Er selbst als physische Persönlichkeit kam dabei um und wartet nun, bis seine Zeit gekommen ist. Darin drückt sich die ganze Stimmung des Mittelalters aus gegenüber dem alten Heidentum und dem neuen Christentum.

Man fing an, die eigene Volksseele zu betrachten, und sagte: Aus der alten Atlantis haben wir unsere Kultur herübergeholt. Sie ist aber bestimmt unterzugehen; an ihre Stelle muss das Christentum treten. Aber sie wird wieder aufsteigen, geläutert, gereinigt, erhöht durch das Christentum. – Man fing an, einen Übergang zu schaffen von dem Ende des Abstiegs zum Beginn des Aufstiegs. Man fing an, sich den Gang der tieferen deutschen Geisteskultur so vorzustellen, dass das hellseherische, atlantische Bewusstsein abgelöst wurde von etwas, das noch kommen musste. Man musste die natürliche Tapferkeit, Frommheit, Tugend wiedererobern auf andere, neue Weise. Drei Vorstellungen hatte man – Vorstellungen von drei bestimmten Kräften: Wotan, Wili und We. Wotan ist die intuitive Kraft, wie sie der Eingeweihte darstellt; Wili ist der Wille selbst;

We ist das Gemüt, mit einem tragischen Zug, wo es apokalyptisch wird. Jetzt sollte eine andere Zeit kommen. Jetzt sollte durch die christliche Lehre der Durchgangspunkt gewonnen werden, und man sollte wieder hinaufsteigen zu dem, was vor der Götterdämmerung war.

Dass Barbarossa im Berge sitzt, bedeutet, dass er ein Eingeweihter ist. Der „Berg“ ist die Einweihungsstätte. Christus ging mit seinen Jüngern „auf den Berg“ – ins Mysterium. Die Raben bedeuten eine Einweihung des Barbarossa. In dem persischen Einweihungsritual unterscheidet man sieben Stufen der Einweihung. Die „Raben“ bedeuten die erste Stufe der persönlichen Einweihung. Sie bezeichnen die noch bestehende Verbindung des Eingeweihten mit der Umwelt. Man denke an die Raben des Elias. Auch bei Wotan finden wir die Raben. Sie vermitteln seine Kommunikation mit der Umgebung. So hatte auch Barbarossa, der Eingeweihte, die Raben um sich, die ihn noch mit der Welt in Zusammenhang hielten.

Barbarossa hatte den heiligen Gral aus dem Orient geholt. Dieser heilige Gral war aufbewahrt worden auf dem Mons salvationis, dem Berg des Heils. Ihn umgeben jetzt die Nachfolger der Tafelrunde des Königs Artus, die zwölf Ritter, die zu der alten heidnischen Initiation die christliche Initiation hinzubekamen. Der Gral ist das Sinnbild der christlichen Initiation. Wer in die Geheimnisse des heiligen Grals eingeweiht werden wollte, der wurde christlicher Initiierter. Christlicher Initiierter wird man dadurch, dass man zuerst durch alle Zweifel hindurchgeht und dann den festen Halt bekommt in der Verbindung mit Christus selbst. Eins ist dazu notwendig: das unmittelbare Vertrauen zu der Gestalt Christi. Die ersten Jünger legten gerade darauf so besonderen Wert, dass Christus da war. Sie sagen: Wir wollen Zeugnis davon ablegen, dass wir mit Ihm zusammen waren. Wir haben unsere Hände in Seine Wunden gelegt. Was wir selbst gesehen und gehört haben, das verkündigen wir. – Paulus ist deshalb Apostel, weil er im Geiste den Auferstandenen wahrhaftig erschaut hat. Auf die unmittelbare Erfahrung kommt es an, die man nicht durch Weisheit und Logik, sondern unmittelbar sich erwirbt.

Klar ist es uns, was Parzival auf seinen Wanderungen erreichen soll. Die Mutter Parzivals heißt Herzeleide. Wenn man den Parzival des Wolfram von Eschenbach, der ein gründlich Eingeweihter war, tief liest, zwischen den Zeilen und Worten, so findet man, dass der Name Herzeleide, der Mutter Parzivals, ein Niederschlag des tragischen Zuges ist, der in dem deutschen Gemüte lag. Derjenige, der nicht den Parzival-Weg macht, der trägt im Herzen das Leid; er hat sich den Frieden zu erringen. Wolfram von Eschenbach hat es verstanden, die Sage in eine wunderschöne Form zu kleiden. Mit der einen Tatsache hat er ein tiefinneres Symbol gemeint – die weibliche Persönlichkeit bedeutet immer das Bewusstsein -: Herzeleide ist der Bewusstseinszustand, von dem Parzival ausgeht. Er hat zunächst ein tragisches Bewusstsein. Er ringt sich durch alles durch, was die weltliche Ritterschaft bieten kann, mit einem naiven, einfältigen Bewusstsein, um zu dem Geheimnis des heiligen Gral zu kommen.

Dies müssen wir Zusammenhalten mit der Barbarossa-Sage. Barbarossa ging nach Asien, um die Geheimnisse des heiligen Gral zu suchen, die Einweihung des Christentums. Aber er ist zugrundegegangen auf dem Wege zum heiligen Gral. Er muss „im Berge“ warten, bis das Christentum den Anschluss finden kann an die frühere Einweihung. Barbarossa hat das Christentum geholt, aber die tiefere Einweihung des Christentums noch nicht errungen.

Parzival ist der neue christliche Eingeweihte, das große Sinnbild, das die Siegfried-Einweihung ablöst. Siegfried hat die niedere Natur überwunden, den Lindwurm, die Schlange. Parzival wird der Eingeweihte des heiligen Gral, der den kennenlernt, der unverwundbar ist da, wo Siegfried noch verwundbar war. Im Parzival wird die ursprüngliche Idee des Christentums zum Ausdruck gebracht. Es kennt nicht mehr die Idee der Reinkarnation. Man betrachtet das eine Leben zwischen Geburt und Tod als das einzige. Das Wertvolle ist die eine Inkarnation. Man blickt nicht mehr hinauf nach Manas, Buddhi, Atma. Die Parzival-Initiation ging nur dahin, zu dem Bewusstsein des Zusammenhanges mit Christus zu kommen, die eine Inkarnation zu betrachten, in der der Mensch durch Mitleid zum Wissen kommt und nicht durch Wissen zum Mitleid, wie es durch die Theosophie geschieht. Die Theosophie lehrt uns zu erkennen, wie wir eins mit allen Menschen sind. Durch sie weiß man, dass man selbst verantwortlich ist für das, was unser Bruder tut. Die Theosophie führt durch Wissen zum Mitleid. Aber die Menschheit musste eine Zeitlang hindurchgehen durch eine Entwicklungsperiode, wo sie durch Mitleid zum Wissen kommen sollte. Sie musste hinuntersteigen in die Tiefen des Mitleids, weil man auch da zum Wissen kommen kann. Das musste so sein, damit die Menschen diese irdische Welt in ihrer ganzen Wichtigkeit kennenlernten. Das Christentum sollte die Menschheit erziehen, damit auch das Irdische in seiner Bedeutung erfasst werde. Darum musste der Mensch erst auf das physische Leben, in moralischer Beziehung, hingelenkt, hinuntergelenkt werden. Dann konnte er erst zu den großen Errungenschaften kommen, die mit der Städtekultur beginnen.

Der Fortgang des Mittelalters wird in der Sage geschildert in dem Übergang von der Parzival-Sage zur Lohengrin-Sage. Diese Sage taucht auf in der Zeit, wo in ganz Europa überall Städte gegründet werden, die vorzugsweise dem erwachenden Bürgertum dienen, die nicht mehr auf das geistliche Leben, sondern auf das materielle Leben gegründet sind. In den Städten werden die ganzen materiellen Errungenschaften vorbereitet, so zum Beispiel auch die Buchdruckerkunst. Ohne die Städtekultur hätte sich die moderne Wissenschaft nicht in dieser Weise entwickeln können. Auch die Universitäten sind eine Folge dieser Kultur. Ein Kopernikus, ein Kepler, Newton und so weiter wären ohne sie nicht möglich gewesen. Auch Dantes „Göttliche Komödie“ und die Maler der Renaissance führen zurück auf die Städtekultur.

Die Sage von dem Zusammenhang Parzivals, des Vaters, mit Lohengrin, dem Sohne, weist hin auf die Bedeutung der Städtekultur. Elsa von Brabant ist die Vertreterin der Städte, das Städtebewusstsein. In aller Mystik wird dasjenige, was der physischen Welt entgegenarbeitet, als etwas Weibliches hingestellt. Goethe spricht von dem „Ewig-Weiblichen“; in Ägypten verehrte man in diesem Sinne die Isis.

Halten wir einmal die Stufen der Initiation des Chela fest. Der Chela hat zunächst drei Stufen zu überwinden. Die erste Stufe ist die des heimatlosen Menschen, wo der Mensch herausgerissen wird aus der physischen Welt, wo er objektiv wird der physischen Welt gegenüber. Er muss verlernen, parteiisch zu sein, er muss lernen, alles in gleicher Weise zu lieben; er liebt nicht weniger, aber er überträgt seine Liebe auf alles, was Liebe verdient, nicht nur auf seine Heimat und so weiter. Die zweite Stufe ist die, wo der Chela Hütten baut. Er findet eine neue Heimat. Die Jünger auf dem Berge haben diese Stufe erreicht. Sie sind jenseits von Raum und Zeit, sehen Elias und Moses. Deshalb sprechen sie: Lasset uns Hütten bauen. – Die dritte Stufe ist die des Schwans. Ein Schwan ist derjenige Chela, der so weit gekommen ist, dass alle Dinge zu ihm sprechen, auch die, die ihr Bewusstsein auf höheren Planen haben. Auf dem physischen Plan hat nur der Mensch das Ich. Das Tier hat das Bewusstsein auf dem Astralplan, die Pflanze auf dem Mentalplan (Rupaplan), das Mineral auf dem höheren Mentalplan (Arupaplan). Man muss sich erheben zu höheren Welten, um das Ich, die Namen der anderen Wesen zu finden; da sprechen die Dinge dem Chela ihre eigenen Namen aus. Die Welt wird dann überall tönend und klingend für ihn. Im Hinblick auf diese Tatsache sagt Goethe:

Die Sonne tönt nach alter Weise
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang.

Er wiederholt diesen Hinweis aus dem Prolog im Himmel da, wo er Faust hinüberführt in die höheren Welten:

Tönend wird für Geistesohren
Schon der neue Tag geboren.
Felsentore knarren rasselnd,
Phöbus Räder rollen prasselnd,
Welch Getöse bringt das Licht!
Es trommetet, es posaunet,
Auge blinzt und Ohr erstaunet,
Unerhörtes hört sich nicht.

Es ist nicht gleichgültig, dass der Prolog im Himmel im ersten Teil des „Faust“ und der zweite Teil so beginnen. Auf etwas ganz Bestimmtes hat Goethe da hingewiesen: Es ist der dritte Grad der Chelaschaft, wo die Welt um uns herum tönend wird und alle Dinge uns ihren Namen sagen. Auf solch einem Grade war Jesus angelangt, als er Christus aufnehmen sollte. Dieser Grad wurde in der Weißen Loge bezeichnet als der Schwan. Schwäne waren die, die nicht mehr ihren Namen sagen durften, denen aber die ganze Welt ihre Namen offenbarte.

Lohengrin, der Sohn Parzivals, ist derjenige Eingeweihte, der die Städtekultur begründete, der von der großen Gralsloge abgesandt wurde, um das Bewusstsein der mittelalterlichen Menschheit zu befruchten. Durch Elsa von Brabant wird das strebende menschliche Bewusstsein charakterisiert, das von der Umwelt, dem Männlichen, befruchtet wird. Das durch Elsa dargestellte Städtebewusstsein soll befruchtet werden durch Lohengrin, durch den heiligen Gral. Die Verbindung Lohengrins mit Elsa von Brabant ist die Verbindung der materiellen Kultur mit [der geistigen Aufgabe] der fünften Unterrasse. Der Schwan ist der im dritten Grade Eingeweihte, der den Meister aus der Großen Loge hereinbringt. Der Mensch muss den Meister auf sich wirken lassen, ohne nach seinem Wesen zu fragen. Elsa von Brabant muss das, was er ihr gibt, als das ihr Zukommende betrachten. In dem Augenblick, wo sie aus Neugier fragt, da verschwindet der Eingeweihte. Dies alles ist zum Ausdruck gebracht in der Lohengrin-Sage.

Die Tempelritter hatten aus dem Orient die Einweihungsweisheit des heiligen Gral herübergebracht nach dem Berge des Heils, Mons salvationis, der Einweihungsstätte des Christentums. Eine Einweihungszeremonie wies direkt hin auf die Zukunft des ganzen Menschengeschlechtes. Es wurde gesagt: Eine Zeit wird kommen, da wird das Christentum eine neue Phase erleben. – Der Fortgang der menschlichen Geisteskultur wurde von jeher bewusst nach dem Fortgang der Sonne bezeichnet. Vor dem Jahre 800 vor Christus ging die Sonne während circa 2200 Jahren durch das Sternbild des Stieres. Da verehrte man drüben in Asien als das Göttliche den Stier. Noch vorher wurden aus demselben Grunde in Persien die Zwillinge verehrt: Gutes und Böses, die Dualität. Um 800 vor Christus trat die Sonne in das Zeichen des Widders oder Lammes. Darauf weist hin die Sage von Jason und dem goldenen Vlies. Christus nennt sich selbst das Lamm Gottes, weil er in diesem Zeichen erschien. [Heute steht die Sonne im Zeichen der Fische.] Die Tempelritter weisen hin auf das nächste Sternbild; die Sonne wird dann eintreten in das Sternbild des Wassermannes. Da wird das Christentum erst wirklich aufgehen, das Heidentum verbunden mit dem Christentum sein. Diese Kultur wird einen neuen Johannes auferwecken. Dieser Zeitpunkt tritt ein, wenn die Sonne im Zeichen des Wassermannes stehen wird. Johannes heißt Wassermann; er wird der Verkünder sein einer neuen Zeit des Christentums. Man sagt, die Tempelritter hätten auf Johannes den Täufer hingewiesen, nicht auf Christus. Aber der Johannes, von dem sie reden, ist der Wassermann.

Die letzte Phase des Christentums, die von dem Initiierten Lohengrin herrührt, hat herbeigebracht die Periode der Nützlichkeit, die jetzt ihren Höhepunkt erreicht hat. Die theosophische Bewegung will die Nachfolgerin solcher Bewegungen sein, wie es die Parzival-Bewegung war und wie diejenige, die von dem Initiierten Lohengrin ausgegangen ist. Auch der moderne Materialismus verdankt großen Eingeweihten seinen Ursprung, aber er muss abgelöst werden von einer neuen Phase, von einem neuen Zyklus. Das will die Theosophie herbeiführen. Immer aber sind es die Initiierten, die sprechen, wenn ein neuer Kultureinschlag gegeben werden soll.